Radeln im Freilichtmuseum der Industriekultur

Weltstadt, Kulturstadt, Partystadt – Berlin schmückt sich mit vielen Attributen. Als Freilichtmuseum ist die Metropole bis dato nur einer kleinen Szene bekannt. Dabei trifft auch das zu, ziemlich gut sogar. Hier lässt sich ein riesiges Freilichtmuseum der Industriekultur entdecken. Mit dem Fahrrad geht das wunderbar, dank sorgfältig konzipierter Routen des Berliner Zentrum Industriekultur (kurz bzi). Fünf gibt es inzwischen. Sie führen durch ganz Berlin, abseits der überlaufenen Hotspots und zu Orten, die oft nicht einmal Einheimische kennen: von Spandau bis Charlottenburg, von Wedding bis Tempelhof. Zur Probefahrt eingeladen, wählte die neue Präsidentin der HTW Berlin, Prof. Dr. Annabella Rauscher-Scheibe, die Route „Wasser und Strom“ in Oberschöneweide. Die ehemaligen Industriegebäude in der Wilhelminenhofstraße, wo die Hochschule seit vielen Jahren einen Standort hat, zählen zu den Highlights dieser Strecke.

400 Jahre Industriegeschichte auf 60 Metern

Auf dem Campus Wilhelminenhof erwarten die Präsidentin komfortable Fahrräder in der HTW-Hausfarbe, die HTWheels, sowie die Leiterin des Berliner Zentrum Industriekultur (bzi), die Professorin Dr. Dorothee Haffner, und Antje Boshold, Projektkoordinatorin der Fahrradrouten. Man trifft sich vor Gebäude D. Auf der 60 Meter langen Fassade der Halle werden 400 Jahre Industriegeschichte in 15 Minuten anschaulich. Die Zusammenstellung prägnanter Texte und Fotografien ist das Ergebnis eines Gemeinschaftsprojekts der Bachelorstudiengänge Museumskunde und Kommunikationsdesign, das Prof. Dr. Haffner im Herbst 2019 mit ihren Kollegen Prof. Dr. Tobias Nettke und Prof. Florian Adler realisierte.

Jede Strecke wurde vorher probegefahren

Entlang der Spree radelt die kleine Gruppe in Richtung Peter-Behrens-Bau. Wie sich schnell herausstellt, ist Prof. Dr. Rauscher-Scheibe nicht nur eine aufmerksame Zuhörerin, die eines von vielen Projekten an ihrer neuen Hochschule kennenlernen möchte. Als begeisterte Radfahrerin (die nicht einmal ein Auto besitzt) mit großem Interesse an Berlin, seiner Geschichte und Kultur, verkörpert die Präsidentin die Zielgruppe der Industriekultur-Routen geradezu idealtypisch. Dass die Strecken wann immer möglich auf etablierten Radwegen verlaufen und von Profis erst einmal praktisch getestet wurden, weiß sie nach eigenem Bekunden sehr zu schätzen.

Drehort für "Babylon Berlin"

Stopp beim Peter-Behrens-Bau an der Ecke Wilhelminenhofstraße/Ostendstraße: Das repräsentative, einem Rathaus ähnelnde Gebäude entwarf der renommierte Architekt mitten im Ersten Weltkrieg. 20 Jahre lang produzierte die Nationale Automobilgesellschaft (NAG) dort Lastkraftwagen für das Heer, später auch PKW und Omnibusse. „Das Produktionsgebäude war eine klassische Stockwerksfabrik. Im obersten Stockwerk ging es mit dem Bau der Karosserie los, auf den unteren Etagen wurde montiert, im Erdgeschoss schließlich vollgetankt“, beschreibt Antje Boshold das historische Produktionsverfahren. Im Mittelpunkt des Verwaltungsbaus, einem von Arkaden gesäumten Lichthof, der übrigens Drehort für die Serie „Babylon Berlin“ war, begegneten sich Arbeitskräfte und Direktoren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Peter-Behrens-Bau Sitz des Werks für Fernsehelektronik, das zu DDR-Zeiten Bildröhren für Fernsehgeräte herstellte. Bald soll auf dem 10 Hektar großen Areal etwas Neues entstehen. Die Deutsche Immobilien Entwicklungs AG (DIE AG) plant ein energetisch autarkes Stadtquartier für Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Kultur und öffentliches Leben.

Batterien werden noch heute produziert

Die Radlerinnen schwingen sich wieder auf den Sattel. Der nächste traditionsreiche Standort der Elektroindustrie befindet sich nur einen Steinwurf entfernt. Dort werden heute noch Industriebatterien produziert, auch wenn der kopfsteingepflasterte Innenhof nicht wie die Zufahrt zum Gelände eines Weltmarktführers wie der BAE Batterien GmbH aussieht. Um die Jahrhundertwende wurden transportable Batterien unter dem Markennamen VARTA gefertigt, während des Zweiten Weltkriegs Akkumulatoren für U-Boote und V2-Raketen, zu DDR-Zeiten stellte ein Volkseigener Betrieb wieder herkömmliche Batterien her.

Jeder Flyer ist ein kleiner Reiseführer

All diese spannenden Informationen über die Berliner Industriegeschichte bekommt auch, wer anders als die Präsidentin nicht mit kundigen Führerinnen radelt. Jeder Flyer enthält einen übersichtlichen Kartenausschnitt, in dem alle Orte markiert und abgebildet sind, dazu sorgfältig recherchierte Informationen sowie Hinweise zu An- und Abreise, Gaststätten und Cafés mit besonderem Industriekultur-Flair. „Man kann die Flyer als kleine Reiseführer bezeichnen“, findet Antje Boshold. Man hat alles, was für einen Tagesausflug nötig ist, werbefrei und sogar kostenlos. Etwas Vergleichbares hat Boshold, die selbst begeistert Rad fährt, in Deutschland noch nirgendwo bekommen. Bei der Konzeption von Routen, Infomaterial und der digitalen Aufbereitung hat sich das bzi-Team mit Akteur*innen im Ruhrgebiet ausgetauscht, die viel Erfahrung im Umgang mit Industriekultur-Routen haben. Freiwillige Berliner Testradler*innen halfen außerdem dabei, den ein oder anderen Holperer bei der Streckenführung verschwinden zu lassen.

Auf den Spuren der "Bullenbahn"

In der Wilhelminenhofstraße folgt die kleine Gruppe nun der Trasse der ehemaligen „Bullenbahn“. Das einst weit verzweigte Gleisnetz, das die unzähligen Fabriken an der Spree bediente und ab 1901 natürlich elektrisch betrieben wurde, lässt sich anhand des Flyers rekonstruieren. Dort kann man auch nachlesen, dass nicht ganz sicher ist, woher die „Bullenbahn“ ihren kuriosen Namen hat. In Frage kommen wahlweise der Umstand, dass zunächst Pferde und Ochsen die Güterwagen zogen, oder aber „Bulle“ als Spitzname für die schweren Elektrolokomotiven.

Vision einer europäischen Radroute der Industriekultur

Für Prof. Dr. Rauscher-Scheibe ist am Eingang zum Campus Wilhelminenhof Schluss mit der Radtour. Die Präsidentin muss den nächsten Termin wahrnehmen. Doch als frischgebackene Einwohnerin von Oberschöneweide will sie bald die ganze Tour „Wasser und Strom“ mit allen 17 Industriedenkmälern erkunden. Mit diesem Plan befindet sie sich in guter Gesellschaft. Die Nachfrage nach den Flyern wächst, soeben wurden 10.000 Exemplare nachgedruckt. „Die Radrouten sind perfekt geeignet, das Thema Industriekultur einem größeren Publikum bekannt zu machen“, freut sich Antje Boshold. „Zu den bereits bestehenden fünf Routen werden sich bis 2024 noch weitere hinzugesellen“, blickt Prof. Dr. Haffner in die Zukunft. Die Vision der beiden: Die Berliner Touren werden irgendwann Teil einer europäischen Radroute der Industriekultur.

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