Warum Bauteile brechen und wie man Stahl glüht

Spitzenreiter ist das Smith-Diagramm. In knapp elf Minuten erklärt eine freundliche Stimme anhand von animierten Grafiken, wie man das besagte Diagramm eigentlich liest und wie es erstellt wird. Mehr als 110.000 Mal wurde das Video auf youtube aufgerufen. Aber auch die Zugriffszahlen der Videos zu den Themen „Festigkeit“ und „Gitterfehler“ können sich sehen lassen, freut sich Prof. Dr. Anja Pfennig. Seit beinahe zehn Jahren dreht sie gemeinsam mit Studierenden Lehrfilme speziell zu Werkstoffen. 75 sind inzwischen zusammengekommen. „Es gibt keine bessere Methode, um Studienanfänger*innen anschaulich zu vermitteln, was im Inneren eines Werkstoffs passiert“, sagt die engagierte Hochschullehrerin.

Werkstofftechnik ist eine Herausforderung

Wer nicht vom Fach ist, entdeckt in dem Kanal „Werkstofftechnik – HTW Berlin“ höchst wundersame Begrifflichkeiten. Da wird zwischen Schwingbruch, Kriechbruch und Gewaltbruch unterschieden, da ist von Weichglühen und Diffusionsglühen die Rede, von Dimensionalen Gitterfehlern und von Ausscheidungshärtung. Alles fällt in die Rubrik „Grundlagen der Werkstofftechnik“, die Prof. Dr. Pfennig seit vielen Jahren in den Studiengängen Maschinenbau, Fahrzeugtechnik und Wirtschaftsingenieurwesen lehrt. Sie weiß nur zu gut, wie schwer sich Studienanfänger*innen damit tun, zu verstehen, welche Vorgänge im Inneren eines Werkstoffs ablaufen, wenn dieser verformt oder erhitzt wird, wenn seine Steifigkeit oder seine Festigkeit verändert wird. „Dieses Wissen ist für Ingenieur*innen aber enorm wichtig“, sagt die Expertin für Werkstofftechnik. Denn daraus resultieren unter anderem spezielle Anforderungen an eine Konstruktion, an die Vorbehandlung eines Bauteils oder an seine Legierung. Und Ingenieur*innen sollten in der Lage sein, die von Kürzeln und Fachbegriffen geprägte Sprache der Werkstofftechnik zu verstehen.

Videos machen die Materie anschaulich

Auf die Idee, die Materie in Gestalt von Videos anschaulich zu machen, kam Prof. Dr. Pfennig nach der Geburt ihres Kindes. Damals blätterte sie oft in Kinderbüchern und stellte fest, dass die besten Verknüpfungen im Kopf dann entstehen, wenn sich zum Wort das passende Bild gesellt. „Wenn man das, was man gerade liest bzw. hört, auch sieht, fällt es leichter, den Sachverhalt zu verstehen“, sagt sie. Außerdem werde in den gängigen Fachbüchern der Werkstofftechnik zwar oft das „Was“ erklärt, aber meistens nicht das „Warum“, das ihre Studierenden aber sehr interessiere und zum Verständnis unbedingt erforderlich sei.

Studierende erklären für Kommiliton*innen

In den Lehrfilmen, die seit 2014 entstehen, wird das „Warum“ deshalb in allen Details und mit bewegten Bildern gezeigt. Prof. Dr. Pfennig rekrutiert dafür freiwillige Studierende im 4. oder 5. Semester, die im Projekt fünf Credits erwerben. Sie und nicht die Professorin erklären, was es mit den schon erwähnten Bruchformen, den Glühverfahren und anderen Themen der Werkstofftechnik auf sich hat. „Erstens sprechen Studierende die Sprache ihrer jüngeren Kommilitoninnen und sind näher dran am Lernprozess als ich“, begründet die Hochschullehrerin das Peer-to-peer-Modell. Zweitens verpassen unterschiedliche Teams den Videos sehr individuelle Handschriften. „Man würde viel zu schnell müde, wenn alle nach demselben Strickmuster gearbeitet wären“, ist sie überzeugt.

Die Professorin bürgt für die Richtigkeit

Die Professorin höchstselbst bürgt natürlich für die fachliche Richtigkeit. Das gilt sowohl für das Drehbuch, an dessen Wortlaut sorgfältig gefeilt wird, als auch für die Visualisierung der Inhalte. Bei der Umsetzung werden die Studierenden von einem Videofachmann unterstützt; meist ist das Jörg Meier-Rothe aus dem Lehrenden Service Center der HTW Berlin. Der Aufwand für einen Lehrvideo ist allerdings nicht klein. „Auf fünf Minuten Film kommen etwa 180 Stunden studentischer Workload“, weiß sie inzwischen. Ihre eigene Arbeit ist da noch nicht eingerechnet. „Mein Hobby quasi“, lächelt sie.

Nur gute Lehrfilme gehen online

Allerdings hat Prof. Dr. Pfennig auch einen hohen Anspruch: Entweder bekommt der fertige Lehrfilm die Note 1, oder aber er verschwindet in der Schublade, weil er nicht funktioniert. „Dazwischen gibt es nichts“, sagt sie. Minderwertige Lehrfilme mag sie den Studierenden nicht zumuten. Sie sollen ja Spaß am Lernen haben. Außerdem, so ihre Vermutung, würden weniger überzeugende Filme womöglich der Nachfrage nach den guten Filmen schaden.

5500 Abonnent*innen auf YouTube

Und diese Nachfrage ist groß. Die 1:1 auf die Lehre an der HTW Berlin zugeschnittenen Videos sind beliebt, vor allem, aber nicht nur bei HTW-Studierenden. Denn: Einen fünfminütigen Film zu schauen bringe so viel wie zwei Stunden Fachbuchlektüre, haben Erstsemester Prof. Dr. Pfennig berichtet. Kein Wunder also, dass der YouTube-Kanal Werkstofftechnik – HTW Berlin 5550 Abonnent*innen zählt. Mitarbeiter*innen der BAM (Bundesanstalt für Matierialforschung und –prüfung) lobten kürzlich den Filmzyklus zur Austenitisierung von Stahl und seiner Martensitbildung. Auch der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und die Deutsche Bahn haben schon angefragt, ob sie die Filme nutzen dürfen. „Dürfen sie natürlich“, sagt die Wissenschaftlerin, die für die Entwicklung innovativer Lehrformen und wegweisender Weiterbildungsangebote 2012 den Preis für gute Lehre der Hochschule erhielt. „Wir bieten open source an und haben uns auch bewusst gegen Werbung entschieden“.

Themen gibt es noch viele

Themen für Lehrfilme hat Prof. Dr. Pfennig noch viele; es gibt ja unzählige Werkstoffe und Detailfragen. Die nächsten Videos beschäftigten sich mit Aluminium und dessen Aushärtungsprozess. Das Stahlgefüge fehlt noch, die Materialien Titan, Kupfer und Nickel, auch das Kriechen, also die plastische Verformung von Material unter ruhender Last nach langer Zeit. Dieses Phänomen dürften viele aus dem eigenen Haushalt kennen, wenn sich Schrauben nach langer Zeit nicht mehr lösen lassen. Eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ bekommt man gewiss irgendwann in einem Lehrfilm der HTW Berlin.

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