Genderforschung an der HTW Berlin

„Die deutschen Hochschulen sollten Geschlechterperspektiven stärker in Forschung und Lehre integrieren“. Diese Empfehlung gab der Wissenschaftsrat in einem 150-seitigen Gutachten im Juli 2023. Auch die HTW Berlin hat sich dem Ziel verpflichtet, Geschlechterforschung in dafür geeigneten Fächern zu verankern, zuletzt im laufenden Hochschulvertrag. Wie weit ist sie dabei vorangekommen? „Der Kompetenzaufbau macht Fortschritte“, sagt Dr. Jette Hausotter. Sie berät hochschulweit zur inhaltlichen und methodischen Berücksichtigung von Gender und Diversity. Die Mitarbeiterin im Referat Frauenförderung & Gleichstellung hat selbst an der Humboldt Universität zu Berlin „Gender Studies“ studiert und in der Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik an der TU Hamburg promoviert. Ihre fachlichen Schwerpunkte sind Gleichstellung und Diversität, Techniksoziologie, Arbeitssoziologie und Qualitative Methoden.

Vorab: Was bedeutet die Kategorie „Gender“?

Dr. Jette Hausotter: Mit Gender ist nicht das biologische Geschlecht gemeint, sondern das soziale, also die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht. Das betrifft die persönliche Identität genauso wie Geschlechterverhältnisse in Institutionen und der Gesellschaft, die oftmals hierarchisch und diskriminierend sind. Welche Bedeutung die Kategorie Gender in konkreten Feldern hat, ist Gegenstand der Gender Studies, einem interdisziplinären Fach mit vielfältigen Methoden. Genderforschung  nimmt zum einen die empirisch erfassbaren Geschlechterverhältnisse in den Blick, zum anderen die besagten Konstruktionsprozesse, an denen auch die Wissenschaften beteiligt sind. In den Sozial- und Kulturwissenschaften ist die Genderforschung relativ gut etabliert. Der Wissenschaftsrat mahnt in seinen Empfehlungen eine Weiterentwicklung insbesondere in der Medizin und in den MINT-Fächern an.

Wie steht es um die Genderforschung an der HTW Berlin?

Die Genderforschung existiert derzeit weder als eigenes Lehrgebiet noch als Denomination einer Professur. Das ist bundesweit allerdings auch nur an knapp 40 Hochschulen für Angewandte Wissenschaften der Fall. Dennoch gab es in den letzten Jahren eine Reihe von einschlägigen Projekten. Das Spektrum reichte von einem Ausstellungsprojekt zu sexueller Vielfalt über den Aufbau einer Female Entrepreneurship Plattform bis hin zu partizipativer Produktentwicklung und Digitalisierungsforschung. Ich nehme ein großes Interesse wahr. Viele HTW-Wissenschaftler*innen sind davon überzeugt, dass die Kategorie „Gender“ relevant ist, zögern allerdings, sie in ihre Forschung einzubeziehen, weil sie selbst über keine einschlägige Expertise verfügen. Das kann ich gut nachvollziehen. Der entsprechende Kompetenzaufbau ist daher ein wichtiges strategisches Ziel.

Warum sollte „Gender“ als Kategorie berücksichtigt werden?

Ganz einfach: Weil es der Qualität der Forschung zugutekommt. Wer Genderperspektiven berücksichtigt und auf Diversität achtet, bekommt differenziertere, also bessere Ergebnisse. Wir kennen viele handfeste Beispiele dafür, wie die Nichtbeachtung zu gravierenden Verzerrungen führt. Nehmen Sie die Erkenntnis, dass ein Herzinfarkt bei Männern und Frauen unterschiedliche Symptome hat. Das wurde erst vergleichsweise spät herausgefunden. Bis heute haben Frauen ein größeres Risiko, den Herzinfarkt nicht zu überleben, nicht zuletzt, weil Erst-Helfer*innen primär mit den männlichen Symptomen vertraut sind.

Leider polarisiert das Thema Gender, mitunter sind Wissenschaftler*innen auch starken Anfeindungen ausgesetzt, ja, mehr noch: Bisweilen wird sogar ihre wissenschaftliche Seriosität und Kompetenz in Frage gestellt. Das ist sehr bedauerlich, denn dies läuft auf eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit hinaus und stellt einen Angriff auf offene und vielfältige Hochschulen dar.

Sie sind hochschulweit Ansprechpartnerin für das Thema Gender, was bedeutet das?

Ich berate Wissenschaftler*innen der HTW Berlin, wenn sie Genderperspektiven in ihrer Forschung inhaltlich und methodisch berücksichtigen wollen. Tatsächlich wird das immer wichtiger für die erfolgreiche Begutachtung von Forschungsanträgen. Wenn keine eigene Expertise da ist, kann man sie über Kooperationen mit Universitäten, Workshops oder Forschungskontakte hereinholen. Unser Kooperationszentrum Wissenschaft – Praxis (KONTAKT) hat inzwischen als Teil der Forschungsförderung auch eine eigene Antragshilfe zum Thema Gender entwickelt.

Außerdem biete ich ein Co-Teaching an. Wenn von Lehrenden gewünscht, komme ich in die Lehrveranstaltung und bringe die Kategorie „Gender“ passend zu den fachlichen Inhalten ein. Im Studiengang Bekleidungstechnik / Konfektion ist das bereits etabliert, aber auch in der Makroökonomie und der Ingenieurinformatik habe ich damit gute Erfahrungen gemacht. Selbst in vermeintlich neutralen Fächern wie Mathematik und Physik gibt es wunderbare Anknüpfungspunkte. Man kann über die jeweilige Fachkultur sprechen und darüber, wie Männer und Frauen zusammenarbeiten, wem sie welche Kompetenzen zuschreiben bzw. wie sie ihre eigenen Kompetenzen wahrnehmen. Es kann für Studierende auch aufschlussreich sein, mit ihnen die Genderstereotype in ihrer eigenen Mathebiographie zu reflektieren, um Ängste gegenüber diesen Studienfächern abzubauen.

Drittens koordiniere ich eine Reihe von allgemeinwissenschaftlichen Ergänzungsfächern (AWE) aus Gleichstellungsfördermitteln, die von allen Studierenden besucht werden können, z.B. „Feministische Gendertheorie“ oder „Künstliche Intelligenz aus feministischer Perspektive“.

Wie groß ist das studentische Interesse?

In meinem AWE-Fach „Gender & Diversity in Beruf und Gesellschaft“ merke ich, dass die Kategorie Gender für Studierende völlig selbstverständlich ist. Gerade in den Schwerpunkten „Unternehmensführung und Personal“ muss man sie gar nicht dafür sensibilisieren - hier verlangen die Studierenden nach fachbezogenem Input. Unlängst habe ich eine Bachelorarbeit mit betreut, die sich mit dem Stand der Institutionalisierung von Genderthemen im BWL-Studium der HTW Berlin beschäftigte. Dabei hat die Studentin auch den Bedarf aus Sicht der Studierenden erhoben. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse.

Zum Schluss: Wie wichtig ist eine gendergerechte Sprache?

Man kann lange darüber diskutieren, was genau eine gendergerechte Sprache ist. Fest steht, dass wir als Hochschule den Auftrag haben, sprachlich nicht zu diskriminieren. Es gibt keine neutrale Sprache und die männliche Form meint nicht alle mit, das zeigen Studien. Wenn ich stattdessen zwei Geschlechter nenne oder mich um die sprachliche Einbeziehung vielfältiger Geschlechtsidentitäten bemühe, sende ich anderen Menschen Signale, die von diesen wahrgenommen werden. Alle müssen sich überlegen, wie sie es mit der Sprache halten. Deshalb bin ich mit dem Leitfaden der HTW Berlin zufrieden. Darin machen wir konstruktive Vorschläge für inklusive Sprache, überlassen aber allen die Verantwortung für ihre eigene Ausdrucksweise.

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