Wenn das Trommelfell nur virtuell platzt…

Das Metallblech liegt exakt im rechten Winkel; die Linie, entlang der die Tafelschere gleich schneiden wird, ist deutlich zu erkennen; ich setze die tischgroße, elektrische Maschine per Knopfdruck in Gang. Da wird es dunkler in der Werkstatt, ein Piepsen ertönt und ich starre entsetzt auf die blinkende Mitteilung „Game Over - Ihr Trommelfell ist soeben geplatzt“. Weil ich vergessen hatte, den Gehörschutz aufzusetzen! Dumm gelaufen. Glücklicherweise nicht im wirklichen Leben, sondern im Lernspiel „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“. Realisiert wurde es von Studierenden im internationalen Studiengang Medieninformatik und demonstriert Auszubildenden, wie wichtig Arbeitsschutz (in einer Metallwerkstatt) ist. Lesson learnt, kann ich bestätigen, und setze die Virtual-Reality-Brille erleichtert ab.

"Wir wollen beeindrucken, aber nicht schockieren"

„Wir wollen mit der Darstellung nachhaltig beeindrucken, aber nicht schockieren“, sagt die Medieninformatikerin Tamara Voigt, die das Studierendenprojekt gemeinsam mit Martin Steinicke wissenschaftlich betreut hat. Schließlich sei es nicht hilfreich, wenn Auszubildende Maschinen mit zitternden Händen bedienen, weil vor ihrem geistigen Auge noch Blut aus der virtuellen Anwendung durch die Gegend spritzt. Doch der Ausflug in die Virtual Reality (VR) vermag, was keinem bunten Aufkleber, laminierten Sicherheitshinweis oder beharrlich warnenden Ausbilder gelingt: eine Erfahrung zu schaffen, die sich tief einprägt, ohne dass man selbst Schaden nimmt.

Bis dato wenig VR-gestützte Sicherheitstrainigs

Gleichwohl gibt es bis dato kaum VR-gestützte Sicherheitstrainings im Bereich Arbeitsschutz in Metallwerkstätten. Grund genug, um im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „CoLearnET“ den Prototyp eines Lernspiels zu kreieren und ihn durch praxiserfahrene Partner testen zu lassen. „CoLearnET“ steht für „Kollaboratives Lernen mit digitalen Medien in der Energietechnik“. Die Projektleitung lag in den Händen von Prof. Dr.-Ing. Carsten Busch.

Die Studierenden gingen direkt in die Werkstatt

Was in der Metallwerkstatt so alles passieren kann, hat sich das HTW-Team von den Ausbildern der beiden Projektpartner - es waren dies der Ausbildungsverbund Teltow e.V. (AVT) und das bfw Unternehmen für Bildung - nicht nur ausführlich erzählen lassen. In der Werkstatt des AVT machten die Studierenden des internationalen Studiengangs Medieninformatik auch jene Fotos und Filme, die sie brauchten, um das virtuelle Abbild der Werkstatt zu erschaffen, in der die Auszubildenden Hand anlegen können. „Wir haben uns bewusst für die Tafelschere, den Tischbohrer und die Handhebelschere entschieden, weil diese Maschinen im ersten Ausbildungsjahr besonders oft benutzt werden, meistens sogar nacheinander“, erzählt Adrian Sabrowski, selbst Masterstudent und Projektmitarbeiter an der HTW Berlin.

Die Auszubildenden haben gerne getestet

Für die Auszubildenden waren die Testrunden in der virtuellen Werkstatt eine willkommene Abwechslung. VR-Brille auf den Kopf, einen Controller in jede Hand, flugs zwischen einem männlichen oder weiblichen Avatar gewählt, dann machten sie sich an die sechs vom HTW-Team konzipierten Aufgaben. Dass man sich in einem herkömmlichen Raum befindet, aber tatsächlich glaubt, persönlich vor einer Tafelblechschere zu stehen, ein Metallblech auf den Tisch der Maschine zu legen und einen Gehörschutz aufzusetzen (oder eben nicht), klingt irgendwie verrückt, ist aber wahr und unter dem Begriff „Präsenzerleben“ wissenschaftlich hinlänglich erforscht. Ob und wie gut dieses Gefühl hervorgerufen werden kann, hängt unter anderem davon ab, welches Medium für die Darstellung genutzt wird. Dieses sollte möglichst immersiv sein - den Nutzer_innen also die Möglichkeit bieten, voll und ganz in die virtuelle Welt einzutauchen. Virtual Reality kann das: die reale Umgebung wird (zumindest visuell) vollständig ausgeschlossen und durch ein allumgebendes virtuelles Szenario ersetzt.

VR kann das menschliche Gehirn überlisten

Aber nicht nur bei der Raumwahrnehmung lässt sich das menschliche Gehirn austricksen, sondern auch bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Bei einem Experiment aus dem Jahre 1998 platzierten Forscher Versuchspersonen so, dass sie ihre eigene Hand nicht mehr sahen, wohl aber eine Gummihand, die vor ihnen auf dem Tisch lag. Nachdem die echte und die falsche Hand einige Minuten lang synchron gestreichelt wurden, beschlich die Proband_innen das Gefühl, die Gummihand gehöre zu ihrem Körper. Dieses auf visuell-taktiler Synchronität basierende Phänomen der Body Ownership Illusion kann auch im Medium Virtual Reality beobachtet werden: Ein virtueller Körper wird dann als der eigene wahrgenommen, wenn dessen Bewegungen mit denen des eigenen, realen Körpers übereinstimmen.

Auch eine brummende Fliege kann ablenken

Tatsächlich berichteten die Azubis dem HTW-Team, dass ihr Herz mächtig pochte, wenn ihnen ein Fehler bei der Arbeit in der virtuellen Werkstatt unterlaufen war, dass es auch bisweilen in den Händen kribbelte und sie mitunter sogar glaubten, die Schneide des Messers der Tafelblechschere berührt zu haben. Weil in der ersten Testrunde des Lernspiels wenige Unfälle passierten, gestaltete das HTW-Team die Arbeitssituationen in der zweiten Runde noch lebensnaher. Jetzt brummte plötzlich eine lästige Fliege durch den Raum und lenkte von der sorgfältigen Feststellung des Tischbohrers ab. Ein Radiogerät unterbrach das Musikprogramm mit der überraschenden Eilmeldung, dass sich ab sofort jede_r gegen Corona impfen lassen kann. Oder es machte sich Hektik breit, weil nur noch zwei Minuten für die Aufgabe zur Verfügung standen, ein virtueller Kollege plötzlich von der Seite drängelte oder man, ähnlich stressig, die Aufgabe in Konkurrenz zu einem / einer anderen Auszubildenden bearbeiten musste. Da gerät eine lästige Schutzbrille oder ein Gehörschutz schon mal in Vergessenheit.

Positives Feedback der Ausbilder

Sie würden ein solches Lernspiel sehr gerne in der Ausbildung des Nachwuchses einsetzen, waren sich die Ausbilder einig. Das HTW-Team freute sich über das positive Feedback. Natürlich könnte man noch weitere Features integrieren, meint Adrian Sabrowski, beispielsweise Arbeitssituationen in der Gruppe. „Doch daraus könnte man schon selbst ein Dreijahresprojekt machen“, winkt Tamara Voigt ab. Sie wird die Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Projekt „CoLearnET“ mit in das nächste Forschungsprojekt nehmen, bei dem nunmehr auch Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt. Und die beiden werden das VR-Equipment noch einmal ins Auto packen und gemeinsam nach Teltow fahren. Denn von dort kam bereits die Anfrage, ob auch die nächste Generation der Auszubildenden in der virtuellen Werkstatt tätig werden könnte. Da gebe es doch so ein cooles Lernspiel…

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