Aus dem Eimer kann eine Waschmaschine werden

Ein Stück Südafrika auf dem Campus Wilhelminenhof der HTW Berlin: Elf Studierende haben im traditionellen Kurzzeitprojekt des Studiengangs Industrial Design eine Wellblechhütte gebaut, wie sie millionenfach in südafrikanischen Townships steht. Mit einfachen Holzmodulen für die Rahmenkonstruktion und schlichtem Werkzeug, ohne 3D-Drucker oder Plotter. „Denken am Objekt“ ist angesagt, der konzeptionelle Ansatz so schlicht wie überzeugend. „Angehende Designer*innen erleben, dass ihre Gestaltungsideen wirkungsmächtig und wertvoll sein können, auch wenn sie bei der Entwicklung nicht aus dem Vollen schöpfen und keine Hightech-Gerätschaften einsetzen“, sagt die Lehrbeauftragte Marlene Lerch, als zum Abschluss der Projektwoche alle beisammenstehen und reihum die Ergebnisse präsentiert werden.

Schlüsselerlebnis war ein Aufenthalt in Kapstadt

Gut möglich, dass der Bau der Wellblechhütte im 3. bzw. 5. Semester für den einen HTW-Studenten oder die andere HTW-Studentin zu einem ähnlichen Schlüsselerlebnis wird, wie es Marlene Lerch 2019 beim mehrmonatigen Aufenthalt mit Mann und Tochter in Kapstadt hatte. Der scharfe Kontrast zwischen Arm und Reich sowie das mühsame Leben in den Townships ließen die studierte Geographin und Stadtforscherin, die damals noch als Community Managerin im InnotechHub der HTW Berlin arbeitete, nach der Rückkehr nicht mehr los. Können wir irgendwie zu einer Veränderung beitragen, fragte sich das Paar. Weil es gleichzeitig viele engagierte und kreative Menschen kennengelernt hatte, entwickelten die Netzwerkerin und der Informatiker die Idee einer Sharing-Plattform mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen, die den Austausch zwischen Bewohner*innen in Hüttensiedlungen im globalen Süden erleichtern sollen. 2021 gründeten sie dafür ein gemeinnütziges Startup und tauften es „Hack Your Shack“.

Einfache Lösungen können große Wirkung erzielen

Wer nun rätselt, welche Do-it-Yourself-Anleitungen benötigt werden, kennt Townships vermutlich nicht aus eigener Erfahrung. Marlene Lerch gibt ein eindrückliches Beispiel: die Beschreibung, wie sich für 50 Cent aus einer Plastikflasche, Natron, Essig und Spülmittel ein Feuerlöscher für die eigene Hütte herstellen lässt. Er würde so manche Behausung und womöglich sogar Leben retten, wenn sich, was regelmäßig passiert, improvisiert verlegte Kabel entzünden und die Feuerwehr in den schmalen Gassen der Townships keine Chance hat. Die kreative Low-Tech-Lösung entwickelten zwei Studierende der Universität Kapstadt, Marlene Lerch wurde durch Zufall darauf aufmerksam, demnächst kann man die Anleitung auf ihrer Plattform finden, mitsamt Video einer praktischen Demonstration, die von den Umstehenden mit großem Hallo begrüßt wird.

Wissen zugänglich machen und Menschen vernetzen

Die Bauanleitung für den Feuerlöscher illustriert gleichzeitig das Selbstverständnis, mit dem Marlene Lerch und ihr Mann Christian Fuß die Sharing-Plattform aufgesetzt haben und betreiben werden. Sie verfolgen dabei keinen Top-Down-Ansatz, sondern wollen Best-Practice-Beispiele und kreative Ideen sammeln, also bereits vorhandenes Wissen besser zugänglich machen, engagierte Menschen vernetzen und Co-Kreationsprozesse anstoßen. Das Web eignet sich gut dafür, sagt Marlene Lerch, weil in Südafrika 80 Prozent der Menschen Internet-Zugang haben. Selbst wenn sie kein eigenes Handy oder Smartphone besitzen, gibt es doch häufig kostenloses W-Lan über eine Bibliothek oder dergleichen. Wichtig sei natürlich, dass die Plattform daten- und batteriesparend arbeitet. Gelauncht wird sie unter dem Namen „dooiy“ voraussichtlich im Januar 2023, natürlich vor Ort im Pilotland Südafrika.

Wasserfilter konstruieren und Kopfhörer basteln

Dann wird es Anleitungen geben, wie man Gemüse auf minimalem Platz kultiviert, einen Wasserfilter konstruiert, aus zwei Eimern eine recht geruchsneutrale Toilette baut und die Böden von alten PET-Flaschen mit Haushaltsschwämmen füllt, dann mit Textilien verkleidet und so in Kopfhörermuscheln verwandelt, sodass Kinder größere Ruhe fürs Lernen haben. Oder aus wenig Material praktische Möbel herstellt, Springseile aus den Plastikverpackungen des in Südafrika allgegenwärtigen Toastbrots bastelt und mit wenig Ressourcen eine Eimer-Waschmaschine konstruiert. Und so weiter und so fort.

Liveschaltung vom HTW-Campus in ein Township

Mit dem Prototypen der App und einer solchen Eimer-Waschmaschine ist Marlene Lerch bei ihrem letzten Aufenthalt in Kapstadt durch die Townships gezogen und hat die Wäsche der jeweiligen Gastgeberin gewaschen. Das Ziel: ins Gespräch zu kommen, Bedarfe besser zu verstehen und die App zu testen.  „Das war wie bei einer Tupperware-Party“, erinnert sie sich begeistert. Auch von diesen Events hat sie wunderbare Videos und natürlich Fotos. Bilder sind überhaupt wichtig für europäische Augen und Köpfe, denn wer noch nie in einem südafrikanischen Township war, hat Mühe, sich den Alltag plastisch vorzustellen. Deshalb gab es beim Wellblechhütten-Workshop der HTW-Studierenden auch täglich virtuelle Live-Schaltungen in ein südafrikanisches Township bzw. zu dem Team in Kapstadt. Eine Bewohnerin beschrieb, wie schwierig die sanitäre Versorgung gerade für Frauen ist und wie gefährlich der nächtliche Gang auf die Gemeinschaftstoiletten.

Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

Wer am Rande des Existenzminimums lebt, braucht seine ganze Energie für die Bewältigung des Alltags, weiß Marlene Lerch. „Es gibt vor Ort viel Knowhow. Wenn wir es mit dooiy schaffen, dieses Wissen zu vernetzen und zugänglich zu machen, liegt darin ein unglaubliches Potenzial, die Bedingungen zu verbessern“, ist sie überzeugt. Für die Entwicklung der App konnten Marlene Lerch und ihr Mann eine Förderung im Programm „Innovative Geschäftsmodelle und Pionierlösungen“ vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz einwerben. Ziel ist es, dass sich das gemeinnützige Startup in ein paar Jahren selber trägt. Bis dahin suchen sie noch weitere Unterstützer*innen. Vielleicht findet sich genügend Nachwuchs, der dem Startup unter die Arme greift? Noch verbringen 90 Prozent der Designer*innen weltweit ihre gesamte Zeit damit, die Probleme der reichsten 10% der Kund*innen zu lösen (Paul Polak). Auch dies ist ein Missverhältnis, dem Marlene Lerch mit dem Workshop zu Leibe rücken wollte.

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