Mit dem Herzen in Samarra, für eine Zukunft in Berlin

Anas Samarrae erzählt von seiner Fluch

Anas Samarrae singt manchmal, wenn er die Konjugation der unregelmäßigen deutschen Verben übt. So fällt es ihm leichter, die fremde Sprache zu lernen. Wenn man ihm auf dem Campus begegnet, könnte man ihn für einen der vielen internationalen Studierenden der HTW Berlin halten. Aber das ist er nicht. Noch nicht. Seit elf Monaten lebt der 27-Jährige in Berlin. Seit April lernt der studierte Ingenieur intensiv Deutsch und bereitet sich gemeinsam mit anderen Geflüchteten und Asylsuchenden mit Hilfe des Programms INTEGRA auf sein neues Leben in Deutschland vor - und vielleicht auch auf ein weiteres Studium. In seiner Heimat Irak herrscht seit über 20 Jahren Krieg. Anas Samarrae kommt aus Samarra. Die Stadt war zeitweise die Residenz der abasidischen Kalifen, die wissenschaftlichen Errungenschaften der Stadt sind in der islamischen Geschichte bis heute legendär. Seit 2014 wird die Stadt, die auf der Roten Liste des gefährdeten Welterbes steht, vom so genannten Islamischen Staat belagert. Wo Anas aufgewachsen ist, herrscht jetzt Terror. Wir wollten ihn kennenlernen und haben uns zu einem langen Gespräch verabredet.

"Samarra liegt 120 Kilometer nördlich von Bagdad, in einer Region mit etwa 600.000 Einwohnern. Meine Mutter hat mich und meinen älteren Bruder, unterstützt von Onkeln und Großeltern, großgezogen. Mein Vater wird seit dem Golfkrieg 1991 vermisst. Er ist Arzt und wurde in die Armee gezwungen und an die Front geschickt, weil er nicht Mitglied der herrschenden Baath-Partei war. Meine Mutter hat nie eine Schule besucht, sondern sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Sie hat einfach immer weiter gelernt und so später sogar einen Master in Erziehung/Arabischer Sprache gemacht. Bildung ist ihr sehr wichtig. Unsere Familienbande sind sehr stark, daher haben wir uns als Kinder nie allein gefühlt. Am liebsten haben wir mit den anderen Kindern in unserer Umgebung Fußball und Computerspiele gespielt.

Ich selbst bin mit vier Jahren eingeschult worden. Nach dem Abitur 2007 bin ich zum Studium an die Universität von Tikrit gegangen, um dort medizinische Fächer zu studieren. Gleichzeitig habe ich mich erfolgreich für ein Stipendium an der American University of Iraque Suleimani beworben. Zuerst habe ich ein Jahr lang Englisch gelernt und dann zwei Jahre Politik und Philosophie studiert. Es folgten drei Jahre Ingenieurwesen. Es war eine schöne Zeit. Ich habe mich in verschiedenen Gruppen engagiert und war auch Mitglied in einer Shakespeare-Theatergruppe. Wir haben sogar mal bei einem Shakespeare-Festival in Oregon (USA) teilgenommen und unser Stück dreisprachig aufgeführt. Wenn das Publikum "Change" rief, haben wir in unseren Texten zwischen Arabisch, Kurdisch und Englisch gewechselt – manchmal mitten im Satz. Das war eine echte Herausforderung! Später, im Mai 2015, war ich mit dem Studium fertig.

Auf der Flucht vor dem IS in das Land der Ingenieure
Zu dieser Zeit hatten der IS und Rebellenmilizen bereits die Stadt Mossul und ungefähr ein Drittel des irakischen Staatsgebietes eingenommen. Die anderen Landesteile haben schiitische Milizen besetzt. Sie haben meinen Onkel, der für eine Regionalbehörde arbeitete, getötet. Als Sunnit, der an einer amerikanischen Universität studiert hatte, führt für mich kein Weg zurück in Gebiete, die vom IS oder schiitischen Milizen kontrolliert wurden. Immer wieder verschwanden Leute bei „Kontrollen" oder Überfällen. Mir wäre es eines Tages auch fast so ergangen. Fast wäre ich entführt worden, ich konnte gerade noch rechtzeitig zu meinem Bruder in die Türkei fliehen. Anders als mein Bruder habe ich dort keine Arbeit gefunden und musste eine Entscheidung treffen, wohin ich gehe. Deutschland hat die beste Willkommenskultur und -politik in ganz Europa. Als fertig studierter Ingenieur mit ersten Berufserfahrungen habe ich mir Hoffnungen gemacht, in einer Ingenieurnation wie Deutschland Arbeit zu finden.

Zehn Tage lang hat die Reise von der Türkei über Griechenland und Österreich nach Deutschland gedauert. Ich war mit einigen Cousins und ihrer Mutter in einer Gruppe mit dem Boot, Bus, mit dem PKW und Zug unterwegs. Glücklicherweise konnte ich mich gut auf Englisch verständigen, das hat es mir etwas leichter gemacht als anderen. An der österreichisch-deutschen Grenze haben wir die Grenzposten um Asyl gebeten. Sie haben uns registriert und unsere Zugreise nach Berlin organisiert.

In Berlin wurden wir in verschiedenen Unterkünften untergebracht, u.a. in einem DRK-Heim in der Marburger Straße. Wir waren mit den Kindern zu sechst in einem Zimmer für sieben Monate, es war schrecklich. Wir haben wegen der permanenten Unruhe in dem kleinen Raum kaum schlafen können und das Essen war weit weg von dem, was wir kannten. Um etwas Sinnvolles zu tun, habe ich der Heimleiterin beim Dolmetschen geholfen, damit sie die Bewohner registrieren konnte. Viele Bewohner waren krank und brauchten einen Dolmetscher bei den Arztbesuchen.

Mit meinen Zeugnissen bin ich dann bald zur Arbeitsagentur gegangen und habe dort meinen ersten Deutschkurs angeboten bekommen. Die Agentur hat mir auch geholfen, mich für einen Praktikumsplatz bei der Werbeagentur TRIAD zu bewerben. Mit denen zusammen habe ich dann mehrsprachige Informationsmaterialien für das DRK-Heim entwickelt, damit sich die Bewohner besser zurechtfinden können. Tagsüber arbeitete ich also als Praktikant und abends besuchte ich Deutschkurse. Ich hätte mich nutzlos gefühlt, wenn ich einfach zu Hause geblieben wäre, ohne etwas Sinnvolles zu tun.

Hoffen auf Asyl, auf Arbeit, auf eine sichere Zukunft
Bei einer Jobbörse für Geflüchtete im Estrel-Hotel im Frühjahr 2016 bin ich dann auf den Stand der HTW Berlin und das INTEGRA-Programm aufmerksam geworden. Ich habe mich sofort angemeldet und im Sommer die erste Deutschprüfung bestanden. Der Kurs läuft aber weiter. Jetzt überlege ich, ob sich ein Masterstudium in Ingenieurwesen im kommenden Jahr mit einer Berufstätigkeit verbinden lässt. Ich möchte arbeiten und habe mich vor kurzem bei Siemens beworben.

Seit Juli lebe ich in einer WG in Neukölln. Meine Mitbewohnerinnen sind sehr nett und erklären mir die bürokratischen Abläufe und die Kultur hier in Deutschland. Wir kochen und essen zusammen und beim Putzen wechseln wir uns natürlich ab. Mir geht es vergleichsweise gut. Ich wünsche mir sehr, dass mein Asylantrag bewilligt wird. Meistens bin ich optimistisch. Traurig zu sein, hilft mir ja nicht weiter. Aber ich bin in Gedanken oft bei meiner Mutter und meinen Verwandten in Samarra, wir telefonieren täglich miteinander. In den Nachrichten höre ich immer wieder von schweren Kämpfen, z.B. in und um Mossul. Es ist eine sehr schwierige Situation. Mehr als zwei Millionen Zivilisten leben in der Stadt und sie kommen da nicht weg! Es geht mir schlecht, wenn ich an sie denke. Vor allem, weil ich weiß, wie es ihnen geht. Ich habe es ja selbst 13 Jahre lang erlebt… Ich bin zwar Optimist, aber die Nachrichten lassen mich stark daran zweifeln, ob ich jemals zurückkehren kann."