Umweltfreundliche Logistik in einem Industriegebiet
„Null Emission Motzener Straße“ lautet das Motto. Klingt nach Kiez-Initiative, ist aber der ehrgeizige Anspruch eines Unternehmensnetzwerks in der gleichnamigen Straße in Berlin-Marienfelde. Ein „grünes Kraftwerk“ haben sie dort schon; jetzt hat sich der ziemlich umtriebige Zusammenschluss von 60 kleinen und mittelständischen Unternehmen die Logistik im eigenen Industriegebiet vorgeknöpft. Umweltfreundlicher soll sie werden. Mit diesem Ansinnen rannten sie bei Prof. Dr. Stephan Seeck und Prof. Dr. Birte Malzahn offene Türen ein. Die beiden HTW-Wissenschaftler*innen haben sich bereits in mehreren Projekten mit urbaner Logistik beschäftigt. Sie waren gerne bereit, die Vorbereitung eines Feldversuchs in der Motzener Straße zu begleiten und auf dieser Grundlage eine Roadmap für die nachhaltige Umstellung von Warenströmen in einem Industriegebiet zu entwickeln. Das Team wurde dabei im Rahmen des Projektes „Transferroadmap Urbane Logistik“ (TurLo) vom Institut für Angewandte Forschung Berlin (IFAF Berlin) gefördert.
Expertise an der HTW Berlin
„Wir hatten die Nase voll von zahllosen Einzellieferungen, einem hohen Verkaufsaufkommen und verstopften Straßen“, denkt Ulrich Misgeld, der Vorsitzende des Unternehmensnetzwerk Motzener Straße, an den Anfang zurück. Erst habe man nach Vorbildern gesucht, wie man es besser machen könne, aber keine gefunden, und schließlich selbst eine Machbarkeitsstudie angestoßen. Was sie im Zuge ihrer Recherche noch fanden, war die Expertise der HTW Berlin, genauer gesagt: das Projekt „WAS-PAST“. Zwischen 2021 und 2023 hatten Prof. Dr. Stephan Seeck und Prof. Dr. Birte Malzahn ein innovatives Konzept für Warenströme in Städte hinein und innerhalb von Städten entwickelt und mit Partner*innen unter Realbedingungen erprobt.
Das Projekt "WAS-PAST" als Vorbild
1:1 übertragen ließ sich dieses Konzept nicht, denn bei „WAS-PAST“ wurden Pakete an Praxispartner in einem kleinen Hub erst einmal gesammelt und am nächsten Tag umweltfreundlich mit elektrischen Lastenrädern zugestellt. Das Procedere reduzierte das Verkehrsaufkommen im Kiez und sparte CO2. Im Industriegebiet Motzener Straße haben sich hingegen rund 200 Betriebe angesiedelt, knapp die Hälfte davon aus dem Produzierenden Gewerbe. Das große Areal liegt nicht mitten in der City, sondern am südlichen Stadtrand, unmittelbar an der Landesgrenze zu Brandenburg. Die Bedingungen sind also völlig andere. Doch dem dortigen Feldversuch, der im Februar 2024 begonnen hat, liegt ein ähnliches Prinzip zugrunde.
"Die Belieferung effizienter gestalten"
Seit Februar 2024 werden Pakete und Stückgut nicht wie bis dato üblich mehrmals am Tag von verschiedenen Lkw gebracht, sondern von der Komm Logistik GmbH in dem etwa acht Kilometer entfernten Güterverteilzentrum (GVZ) Großbeeren gebündelt und en bloc zugestellt. Diese Fahrten sollen demnächst sogar durch einen E-LKW erfolgen. Und wenn bei den Unternehmen Ware zum Versand ansteht, soll sie der Fahrer im nächsten Projektschritt gleich wieder mit ins GVZ nehmen. Das erspart Leerfahrten. Prof. Dr. Stephan Seeck weiß als Logistik-Experte um die Zurückhaltung von Unternehmen hinsichtlich der Umstellung von sensiblen Lieferprozessen. „Wir wollen zeigen, dass sich Verkehrsflüsse verbessern und die Belieferung effizienter gestalten lässt“, sagt er.
Eine Zustellung pro Tag statt vieler Einzelfahrten
An der ersten Phase des Feldversuchs beteiligt sich ein halbes Dutzend Unternehmen. „Bislang klappt alles einwandfrei“, freut sich Marcel Förster, Geschäftsführer der Robert Karst GmbH & Co. KG. Als Vorstandsmitglied des Unternehmensnetzwerks ging er mit gutem Beispiel voran. Sein Unternehmen stellt elektrotechnische Bauelemente, primär Steckerelemente, für die Fahrzeugindustrie her. „Was früher vormittags von Amazon, mittags von UPS und am Nachmittag von DHL geliefert wurde, bekommen wir nun einmal am Tag mit einer Fuhre“, erzählt er. Das seien bereits 70 bis 80 Prozent aller Pakete, einige davon kommen auch aus dem Ausland. Lediglich Waren, die dringend für die Produktion gebraucht werden, erreichen die Firma noch auf herkömmlichem Weg, mitunter auch des Nachts. Wenn es weiter so gut laufe, könne man im nächsten Schritt größere Paletten in den Feldversuch einbeziehen, ist Marcel Förster zuversichtlich.
Öffentliche Förderung für die Transfer-Roadmap
Den Feldversuch finanziert das Unternehmensnetzwerk Motzener Straße aus eigener Kasse. Die öffentliche Förderung des IFAF Berlin gilt der Entwicklung der entsprechenden Transfer-Roadmap durch das Team der HTW Berlin. „Wir beschreiben darin, welche Schritte beim Aufbau eines solchen Logistik-Konzepts gegangen werden müssen, wie man Unternehmen dafür gewinnt und wie man die praktische Umsetzung angeht“, erklärt Prof. Dr. Birte Malzahn. Denn die Erkenntnisse sollen anderen Industriegebieten zur Verfügung stehen, die sich auf einen ähnlichen Weg machen wollen.
Dazu eine Open-Source-Software
Beim Start des Feldversuchs noch nicht im Einsatz ist die im Projekt TurLo entwickelte Open Source-Software, mit deren Hilfe die Touren- und Routenplanung digital optimiert und Anlieferungen im Wunschzeitfenster über eine Softwareanwendung gesteuert werden sollen. „Zunächst wurde die Software des Logistikdienstleisters genutzt“, sagt Daniel Quiter, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt. Denn man wollte den Unternehmen den Einstieg in den Feldversuch so einfach wie möglich machen.
Reallabor für die Energiewende in einem Industriegebiet
Ulrich Misgeld hofft, dass es gelingen wird, den Feldversuch in den nächsten beiden Phasen auf immer mehr Unternehmen in der Motzener Straße auszuweiten. „Wir verstehen uns als Reallabor für die Energiewende in einem Industriegebiet“, sagt er. Zu tun gebe es noch viel: die Verknüpfung der Lieferprozesse mit einer einheitlichen Software, die Standardisierung der Label und schließlich eine Kostenanalyse. „Wäre doch schön, das neue Procedere wäre nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch günstiger“, lächelt der Vorsitzende des Unternehmensnetzwerks, der bis 2015 im Vorstand der im Industriegebiet ansässigen Selux AG war. Die Verkehrssenatorin hat er auf jeden Fall auf seiner Seite. „Das Projekt hat große Strahlkraft“, befand Manja Schreiner bei einem Vor-Ort-Besuch. „Sie sind Pioniere und es wäre schön, wenn sich weitere Industriestandorte etwas Ähnliches vornehmen“. Insgesamt 40 gibt es in Berlin. Die Roadmap der HTW Berlin könnte also eine große Leserschaft bekommen.