Vom Klausurstress zur Lernfreude
„Auf Klausuren freuen sich Studierende in etwa so sehr wie auf einen Zahnarztbesuch“, sagt Prof. Dr. Martin Heckelmann. Deshalb hat er sich im Rahmen eines vom Lehrinnovationsfonds geförderten Projekts auf die Suche nach Alternativen begeben. Im LEHRGUT Interview gibt er einen Einblick in sein neues Prüfungskonzept.
Wie ist die Idee für das Projekt entstanden?
Heckelmann: Wie viele andere Kolleg*innen beobachte auch ich, dass Studierende erst drei Wochen vor der Klausur anfangen zu lernen. Das ist problematisch. Denn es erzeugt sehr viel Druck am Semesterende. Außerdem ist der Lernerfolg nicht nachhaltig, weil alles nur im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und nach der Prüfung wieder vergessen wird. Und der vielleicht wichtigste Punkt ist, dass Studierende aus dem Ergebnis einer Prüfung am Semesterende nichts lernen können. Denn dann ist es zu spät, um die Lernstrategie anzupassen. Mit all diesen Dingen war ich schon länger unzufrieden. Deshalb wollte ich gemeinsam mit den Studierenden und unserer studentischen Mitarbeiterin Laura Ammerl versuchen, die Situation zu verbessern.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Heckelmann: Zunächst haben wir anhand von informellen Befragungen der Studierenden ermittelt, welche Probleme mit klassischen Prüfungsformen wie der Klausur verbunden sind. Genannt wurden beispielsweise Prüfungsangst, Einsamkeit beim Lernen und „Bulimie-Lernen“ vor den Prüfungen. Und dann haben wir nach Lösungen dafür gesucht – sowohl in theoretischen Forschungsarbeiten zum Thema als auch ganz praxisnah durch Gespräche über die Lehr- und Prüfungsmethoden von anderen Kolleg*innen an der HTW Berlin. Denn es gibt bereits viele tolle Lehrkonzepte an unserer Hochschule. Davon haben Frau Ammerl und ich uns inspirieren lassen.
Dann mal konkret: Wie sieht das neue Konzept aus?
Heckelmann: Das Konzept folgt dem didaktischen Modell des „Constructive Alignment“. Lernziele, Lehr-/Lern-Methoden und Prüfungsformen sind aufeinander abgestimmt und führen zu einem größeren Lernerfolg. Die Studierenden müssen sechs einzelne Aufgaben bearbeiten. Die Themen und Formate variieren und lassen erhebliche Spielräume für eine kreative Ausgestaltung: Vom Entwurf eines Spickzettels für eine fiktive Klausur über selbstgedrehte Videos zur Erklärung eines Themas bis hin zu der Gestaltung einer Fachlandkarte oder Mindmap. Zu jeder Aufgabe geben zwei zufällig ausgewählte Kommiliton*innen via Moodle-Funktion „Gegenseitige Beurteilung“ ein Feedback an die oder den Urheber*in. Diese*r schreibt daraufhin noch eine Reflexion der eigenen Arbeit unter Einbeziehung der Feedbacks. Pro Arbeitsschritt gibt es jeweils vier Tage Bearbeitungszeit. Die Abgabetermine sind über das ganze Semester verteilt, um eine kontinuierliche Lernleistung zu fördern. Prüfungsrechtlich gesehen lassen wir eine Hausarbeit schreiben, wobei nur die Aufgaben selbst bewertet werden. Feedback und Reflexion leisten die Studierenden jeweils als unselbstständige Prüfungsbestandteile, die zwar erforderlich, aber nicht Teil der Bewertung sind. Für die Gesamtnote bilden wir einen Mittelwert aus allen Aufgaben.
Wie wird das neue Konzept von Studierenden bewertet?
Heckelmann: Vor der Notenvergabe gab es eine anonyme Evaluation, in der zentrale Fragen zum Prüfungskonzept gestellt wurden. 94 Prozent derjenigen, die sich an der Umfrage beteiligt haben, bevorzugten das neue Prüfungsformat im Vergleich zu Klausuren, und 92 Prozent hatten weniger Prüfungsangst. In auffallend vielen Freitextantworten wurde bestätigt, dass das Format die anstrengende Prüfungsphase entlastet und die Studierenden selbst den Eindruck hatten, viel mehr gelernt zu haben. Das Peer-Feedback wurde zwar insgesamt positiv bewertet, aber auch kontrovers diskutiert. Während einige darin einen Mehrwert sahen, wurde von anderen die Qualität der Feedbacks bemängelt.
Gab es überraschende Ergebnisse?
Heckelmann: Wir hatten einen positiven Effekt auf das Lernen erwartet, aber das Ausmaß hat uns dann doch überrascht. Am Ende der Veranstaltung war die breite Masse der Studierenden viel besser darin, eine Lösung für komplexe praktische Fragen zu finden. Die Studierenden spiegelten uns in den Evaluationen, dass sie zwar mehr gearbeitet hätten, aber auch viel mehr hängengeblieben sei. Das hat sich sogar in den Noten gezeigt. Erfreulicherweise nutzten die meisten Studierenden ihre Gestaltungsfreiheiten auch. Viele setzten Humor und Ironie als Stilelemente ein. Häufig waren das dann auch inhaltlich die besten Ergebnisse. Meine These ist, dass Arbeitsfreude beim Lernen zu mehr Aufnahmebereitschaft führt.
Wie geht es mit dem Konzept weiter?
Heckelmann: Aufgrund der sehr positiven Ergebnisse setze ich das Konzept auch künftig ein oder nutze Elemente daraus. Für mich als Lehrperson entsteht kaum Mehraufwand für die Bewertungen im Vergleich zu Klausuren. Ein paar Stellschrauben in Bezug auf die Qualität des Peer-Feedbacks möchte ich noch anpassen. Perspektivisch überlege ich, das Konzept in Richtung einer Lernportfolio-Prüfung weiterzuentwickeln.
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