Was interessiert Studierende an Industriekultur?
Sie reisten aus der ganzen Welt an, die Teilnehmer*innen der zweiten „European Industrial Heritage Summer School“ an der HTW Berlin. Studierende aus Taiwan und China waren dabei, aus Amerika und Argentinien, aus europäischen Ländern sowieso. Auf Einladung des Berliner Zentrum Industriekultur (bzi), der HTW Berlin und der European Route of Industrial Heritage (ERIH) kamen sie im August 2024 auf dem Campus Wilhelminenhof zusammen und beschäftigten sich mit der Frage, wie Nachhaltigkeit an Orten der Industriekultur gestaltet werden kann. Was auf dem Programm stand und wie die zwei Wochen verliefen, berichten Jula Kugler und Katharina Hornscheidt im Interview. Die beiden arbeiten sowohl am bzi als auch an der HTW Berlin und haben die Summer School gemeinsam auf die Beine gestellt.
Wie fällt Ihr Résümee aus?
Jula Kugler: Rundherum positiv. Die 21köpfige Gruppe war erfreulicherweise genauso interdisziplinär, wie sich die Arbeit an einem Ort der Industriekultur in der Praxis darstellt. Dabei müssen ja immer völlig verschiedene Aspekte unter einen Hut gebracht werden: Fragen des Denkmalschutzes und der Restaurierung, ökonomische, ökologische und auch soziale Herausforderungen. Hinzu kommen Tourismus und Marketing. Bei der Summer School waren Studierende und Promovierende aus verschiedensten Fachrichtungen dabei, das hat den Austausch und die Arbeit in den Workshops sehr fruchtbar gemacht.
Wie gelingt es, Studierende aus der ganzen Welt an die HTW Berlin zu locken?
Katharina Hornscheidt: Wir recherchieren selbst nach einschlägigen Studiengängen und verfügen inzwischen über eine solide, eigene Datenbank. Dann wurden wir erneut von Jonas Utke aus dem International Office der Hochschule unterstützt. Er hilft uns mit dem Tool „Mobility Online“, über das wir die 100 eingegangenen Bewerbungen mitsamt Unterlagen managen können. Entscheidend war auch die Kommunikation über die Europäische Route der Industriekultur (ERIH). Mit etwa 400 Mitgliedern in 27 europäischen Ländern ist ERIH das größte europäische Netzwerk im Bereich der Industriekultur. ERIH ist maßgeblicher Sponsor der Summer School und unterstützt unser Vorhaben, weil die Stimmen junger Menschen und das Thema Nachhaltigkeit für die Zukunft des Vereins und für die Arbeit an Orten der Industriekultur existenziell sind.
Was stand in den zwei Wochen auf der Agenda?
Jula Kugler: Das Programm war straff geplant. Wir haben den Workload von 120 Stunden, für den es 4 ECTS-Punkte gab, auf 14 Tage und ein Online-Boarding verteilt. Zunächst haben wir in Lectures und Workshops eine gemeinsame Grundlage in den Bereichen Industriekultur und Nachhaltigkeit gelegt. Daran waren die Studierenden auch selbst beteiligt, indem sie eigene Fallbeispiel aus der ganzen Welt präsentierten. Ergänzend fanden Exkursionen zu Orten der Industriekultur in Berlin und Brandenburg statt. Bevor die Teilnehmenden in die Projektarbeit starteten, haben sie in der zweiten Woche der Summer School selbst zu Schaufel und Akkuschrauber gegriffen. Sie pflanzten einen „Tiny Forrest“ in einer der gelben Boxen auf dem Campus Wilhelminenhof und legten ein Kompostareal für unser Haus der Transformation an. Das hat allen Spaß gemacht und ist eine bleibende Erinnerung an die Summer School 2024. Unser Campus ist ja selbst ein nachhaltig nachgenutzter Ort der Industriekultur. Seine Funktion als Hochschulstandort und unsere Versuche, ihn mit einfachen Mitteln grüner zu gestalten, haben die Studierenden sehr inspiriert.
Welche Ziele verfolgt das bzi mit den Summer Schools?
Katharina Hornscheidt: Wir wollen junge und internationale Sichtweisen auf Industriekultur kennenlernen und sie sowohl für unsere Arbeit als auch die Arbeit von ERIH nutzbar machen. In den Fokus haben wir dabei ganz bewusst das Thema Nachhaltigkeit gerückt. Nachhaltigkeit hat viele Dimensionen. Orte der Industriekultur erzählen Geschichten von Erfindergeist und wirtschaftlichem Erfolg, aber die Kehrseite wie Zwangsarbeit, Umweltbelastung und Ressourcenausbeutung findet noch zu wenig Beachtung. Wenn Besucher*innen diese Auseinandersetzung aber zu Recht einfordern, wie können passende Vermittlungsprogramme aussehen? Wie können Orte der Industriekultur zu Orten der Bildung für nachhaltige Entwicklung werden? Wie gelingt soziale Nachhaltigkeit, sodass nicht nur Besucher*innen zufrieden sind, sondern auch der jeweilige Kiez, weil die Bewohner*innen den Ort ebenfalls nutzen können? Nicht in jede ehemalige Fabrik muss schließlich ein Museum rein, es können auch Ateliers für Künstler*innen entstehen, ein Café oder ein Technoclub.
Damit sind wir bei der Frage, wie man neue Zielgruppen für Industriekultur begeistern kann. Bei der Summer School sind im Rahmen der Projektarbeit interessante Ideen für eine zielgruppengerechtere Vermittlung entstanden. Eine Gruppe entwickelte ein Toolkit für die Kommunikation zum Umgang mit Klimafragen an renaturierten Orten der Industriekultur. Daraus wird vorausichtlich ein Workshop für Kolleg*innen von ERIH entstehen. Zwei Projekte beschäftigten sich mit der Sichtbarmachung der Perspektive von ehemaligen Arbeiter*innen auf dem Campus Wilhelminenhof. Wie Berliner Clubgänger*innen für die Geschichte des Ortes, an dem sie tanzen, sensibilisiert werden können, dafür hat eine weitere Gruppe kreative Ideen gesammelt. Drei Promovierende erarbeiteten eine Matrix für Bewertungskriterien für die Erhaltung von Industriekulturorten. Die Qualität der Präsentationen und die engagierte interkulturelle Zusammenarbeit der Studierenden in diesem Jahr hat nicht nur uns, sondern auch die online zugeschalteten Kolleg*innen von ERIH sehr begeistert. Wir hoffen, dass einige der Projekte umgesetzt werden können.
Und die Pläne für die Summer School 2025?
Jula Kugler: Im nächsten Jahr findet erst mal keine European Industrial Heritage Summer School in Berlin statt. Wir benötigen diese kreative Pause, um neue Ideen zu entwickeln. Ein neues Sponsoring von ERIH steht für 2026 und 2028 in Aussicht. Interessierte Studierende und Kolleg*innen können sich gerne per E-Mail bei uns melden.