„Ich wollte Arbeit und Familie miteinander vereinbaren“

Prof. Dr. Steffen Borchers-Tigasson hatte nach der Promotion zwei Optionen: Entweder eine Karriere in der Wirtschaft zu verfolgen oder seinen Weg an einer Universität zu gehen. Dass der Naturwissenschaftler schließlich das eine mit dem anderen verband und Professor an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften wurde, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass er auch der Familienplanung Bedeutung beimaß. Im Studiengang Elektrotechnik der HTW Berlin war seine Expertise im Bereich komplexer Systeme hochwillkommen. Warum es auch für ihn selbst ein perfekter Match war, erzählt er im Interview.  

Ihr Weg schien direkt zu einer Universitätsprofessur zu führen, oder täuscht das?

Prof. Dr. Borchers-Tigasson: Nein, das stimmt schon. Ich bin nach dem Vordiplom in Technischer Kybernetik mit dem Erasmus-Programm für ein Jahr an die Universität Barcelona gegangen, habe dann auf Systemische Biologie umgesattelt und meine Diplomarbeit in Irland und Schottland geschrieben. Damals schon war ich an wissenschaftlichen Projekten beteiligt und tauschte mich gerne mit Doktorand*innen in meinem Umfeld aus. Promoviert habe ich am Max-Planck-Institut für Dynamik Komplexer Systeme in Magdeburg. Es war eine sehr arbeitsintensive, aber gute Zeit. Auf Konferenzen lernte ich die wissenschaftliche Community kennen. Kurzum: Die Wissenschaft hat mir immer viel Spaß gemacht.

Die Promotion wurde zu einer Wegmarke, warum?

Für die Universitätsprofessur hätte ich mich nach der Promotion auf akademische Wanderschaft begeben müssen, im Idealfall weltweit. Doch damals kam meine Familienplanung in Gang, wir erwarteten ein Kind. Als Familienvater wollte ich weder pendeln noch meiner ebenfalls berufstätigen Partnerin zumuten, mir hinterherzuziehen. Ich ließ die Wissenschaft also los und entschied mich für die Wirtschaft. Das war ein radikaler Schnitt, trotz des Wissens, dass eine Rückkehr in die Wissenschaft nicht unmöglich wäre.

Wie gestaltete sich die Tätigkeit in der Wirtschaft?

Ich fand glücklicherweise einen forschungsnahen Job bei der Evonik Industries AG, einem weltweit führenden Hersteller von Spezialchemie. In der Entwicklungsabteilung hatte ich anspruchsvolle Aufgaben, das Team war toll und die Arbeit machte viel Spaß. Bei dem Unternehmen bekam ich aber auch das Auf und Ab mit, das in der Wirtschaft ja nicht selten ist. Für die weitere Karriere wären allerdings auch bei Evonik Auslandsaufenthalte und die Tätigkeit an anderen Standorten des Unternehmens notwendig gewesen, was für mich aus familiären Gründen nicht in Frage kam. Ich legte eine Reflexionsphase ein und fragte mich, wo ich mich in fünf Jahren sehe. In der akademischen Welt, lautete meine klare Antwort.  

Warum kamen Sie an die HTW Berlin?

Ich hatte eine gewisse Präferenz für Berlin, suchte aber schon deutschlandweit nach Professuren. Eine Hochschule für Angewandte Wissenschaften passte insofern gut, als dass hier meine mehrjährige Berufserfahrung positiv zu Buche schlug. An einer Uni wäre es schwieriger geworden, weil ich während der Berufstätigkeit nicht publiziert hatte, die wissenschaftliche „Konkurrenz“ aber sehr wohl. Die Professur im Studiengang Elektrotechnik der HTW Berlin passt dann mit ihrem Fokus auf Künstlicher Intelligenz hervorragend. Das war ein guter Match, ich habe mich beworben und den Ruf erhalten.

Wie verlief der Einstieg in die Lehre?

Die ersten Kurse waren mit viel Arbeit verbunden. Doch ich erinnere mich gerne daran. Frisch vorbereitet bringt man meines Erachtens einen besonderen Enthusiasmus mit, den die Studierenden spüren und der sie ihrerseits motiviert. Später wird die Lehre leichter. Man wächst an ihr, würde ich sagen. Geholfen hat mir das hervorragende Onboarding an der HTW Berlin. Das Programm für Neuberufene läuft über ein Jahr und war ein wunderbarer Rahmen auch für den persönlichen Austausch. Da konnte man auch mal die Kolleg*innen fragen, wie machst Du das eigentlich oder wie reagieren die Studierenden in Deinem Seminar.

Was mögen Sie besonders an Ihrer Tätigkeit?

Ich empfinde es als großes Privileg, immer mit der jeweils jungen Generation interagieren zu können. Es macht mir Freude, junge Menschen zu bestärken, zu sehen, wie sie über sich hinauswachsen und Lernfortschritte erzielen. Ich bekomme dabei unglaublich viel zurück. Im Unternehmen hatte ich Erfolge, ja, aber nie vergleichbare Glücksmomente. An der Hochschule habe ich oft das Gefühl, etwas zurück geben zu können. Und es ist eine Freude, seinen Alltag selbstständig ausgestalten und eigenverantwortlich arbeiten zu können.

Und wo sehen Sie sich in fünf Jahren?

An der HTW Berlin. Vielleicht gibt es dann einen Fast Track im bestehenden Studiengang oder ganz neuen Studiengang, in dem die Systembiologie, Künstliche Intelligenz sowie Philosophie zusammenkommen? Solche Reformen sind nicht einfach, das habe ich schon gemerkt. Aber es gibt auf jeden Fall die Möglichkeit, daran zu arbeiten. Die Uhren an einer Hochschule ticken zwar langsamer als in der Wirtschaft, aber es gibt Wege.