„Chancengerechtigkeit gibt es noch immer nicht“

Ungleichheit ist sein Thema schlechthin. In vielen Publikationen und Projekten hat sich Dr. René Krempkow damit beschäftigt. Im Fokus des Soziologen: Wie gerecht sind die Chancen im Bildungswesen und in der Wissenschaft verteilt? Seine ernüchternde Einschätzung. „Bis heute spielen die soziale Herkunft eines Menschen und/oder ein Migrationshintergrund eine enorme Rolle für die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten“. Seine Erkenntnisse und sein Wissen über die Bedingungen von Chancengerechtigkeit bringt der Wissenschaftler auch in das Lehrentwicklungsprojekt „Curriculum Innovation Hub“ an der HTW Berlin ein. Im Interview geht er näher auf Benachteiligung in Bildung und Wissenschaft ein. Und er beschreibt, wie die HTW Berlin in dem seit 2021 laufenden Projekt für größere Chancengerechtigkeit sorgen will.

Welche Formen von Ungleichheit gibt es überhaupt?

Dr. René Krempkow: Die schärfste Form der Ungleichheit finden wir bei den sprichwörtlichen „Arbeiterkindern“, die inzwischen treffender als Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten bezeichnet werden. Die zweite wichtige Dimension ist die Migrationsgeschichte eines Menschen. Sie spielt oft noch in der zweiten und dritten Generation eine Rolle, ist statistisch dann allerdings nur noch schwer zu erfassen. Soziale Herkunft und Migration sind außerdem oft eng miteinander verwoben. Beide Faktoren entscheiden bis heute maßgeblich über eine Bildungsbiographie, auch wenn es leider schwer ist, flächendeckende Zahlen zu finden.

Das Geschlecht hat für Studiengerechtigkeit in Deutschland kaum noch Bedeutung. Die Kategorie „Gender“ ist aber definitiv relevant für eine Karriere in der Wissenschaft. Diesem Thema wird heutzutage glücklicherweise und zurecht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Auch eine Behinderung oder die sexuelle Orientierung eines Menschen können sich nachteilig auswirken auf den Erfolg in Bildung und Wissenschaft. Allerdings ist die Datenlage in diesem Bereich noch schlechter als bei der sozialen Herkunft oder der Migrationsgeschichte.

Die sechste Dimension von Benachteiligung ist eigentlich eine Elternschaft, auch wenn sie bislang gesetzlich nicht berücksichtigt wird. Im Wissenschaftssystem haben es Nachwuchswissenschaftler*innen unter den gegenwärtigen Rahmen- und Arbeitsbedingungen ziemlich schwer, Karriere und Elternschaft unter einen Hut zu bringen.

Selbstverständlich überschneiden sich die verschiedenen Dimensionen bzw. sie können sich gegenseitig auch verstärken. 

Haben Sie selbst Ungleichheit erfahren?

Tatsächlich komme ich aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt und bin deshalb für das Thema vermutlich stärker sensibilisiert. Ich habe erst eine Ausbildung zum Schlosser gemacht und bei der Reichsbahn gearbeitet, ehe ich die wunderbare Chance bekam, zu studieren. Unabhängig davon habe ich mir einen kühlen und analytischen Blick bewahrt. Ich schaue auf empirische Daten und analysiere sie, um herauszufinden, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse den in Gesetzen verankerten Werten entsprechen.

Wie schaut es beim Nachwuchs aus Nicht-Akademiker-Haushalten aus?

Nach dem Hochschul-Bildungs-Report des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft hat ein Akademikerkind von der Grundschule an über alle Qualifikationsstufen hinweg gesehen etwa dreimal so hohe Chancen auf einen Bachelorabschluss und sogar zehnmal so hohe Chancen, eine Promotion abzuschließen, wie ein Nichtakademikerkind. An Hochschulen für Angewandte Wissenschaften stellen sich die Verhältnisse tendenziell günstiger dar als an Universitäten. Allerdings wird der Unterschied zwischen den beiden Hochschultypen manchmal zur Diffamierung genutzt und ein HAW-Studium als ein Studium zweiter Klasse abgetan. Das halte ich für hochproblematisch. Außerdem sprechen nicht nur die Zahlen zum Studienabbruch, sondern auch zur beruflichen Bewährung eine klare Sprache für das HAW-Studium.

Und das „Handicap“ Migrationsgeschichte?

Auch hier existiert das, was man „Bildungstrichter“ nennt; dieser Trichter ist aber nicht so ausgeprägt wie bei der sozialen Herkunft. Grundschüler*innen mit Migrationsgeschichte haben immerhin halb so große Chancen bis zur Promotion. Das liegt zum Teil auch daran, dass relativ viele Familien mit akademischer Ausbildung nach Deutschland kommen – Ärzt*innen aus Syrien und ihre Kinder sind ein gutes Beispiel - oder Familien mit einer ausgeprägten Werteorientierung in Richtung Bildung. Das Problem dabei: Es gibt nur wenige amtliche Daten, insbesondere zum Migrationshintergrund in höheren Qualifikationsstufen.

Haben sich die Verhältnisse verbessert?

In sozialer Hinsicht hat es tatsächlich eine gewisse Öffnung gegeben. Aber als das Bundeswissenschaftsministerium 2021 den aktuellen „Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs“ vorstellte – er enthält Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland – da fanden sich dort nur sehr wenige und eher vage Aussagen zu den Themen soziale Herkunft und Migration. Darüber habe ich mich sehr gewundert und es auch kritisiert. Denn: Es ist doch wohlfeil, Chancengerechtigkeit zu fordern, ohne entsprechende Ressourcen bereitzustellen, weder für die Erhebung einschlägiger Daten, die valide Aussagen ermöglichen, noch für Maßnahmen, die sich aus daraus ergeben könnten.

Kann eine Hochschule für größere Chancengerechtigkeit sorgen?

Selbstverständlich ist das auch im kleinen Maßstab möglich. Ein kleines Beispiel sind Sprachkurse. Sie werden von der HTW Berlin finanziert; ich bin selbst in den Genuss eines solchen Kurses gekommen und konnte fehlende Englischkenntnisse nachholen. Auch Deutschkurse für internationale Studierende sind ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit. Aber wichtiger ist es, in größerem Maßstab Strukturen zu schaffen, die der Heterogenität von Lernenden und Lehrenden Rechnung tragen. Das ist ein Ziel des von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre finanzierten Projekts „Curriculum Innovation Hub“ im Lehrenden Service Center, an dem ich beteiligt bin.

Was passiert im Curriculum Innovation Hub?

Primäres Ziel des Curriculum Innovation Hubs ist es, verlässliche Rahmenbedingungen für Blended Learning zu schaffen, also für die Kombination von Präsenz- und digitaler Lehre, sowie passende didaktische Konzepte zu entwickeln. Das klingt in Ihren Ohren vielleicht nicht nach größerer Chancengerechtigkeit. Doch Blended Learning ermöglicht auch denen besser ein Studium, die nebenbei arbeiten – oft Studierende aus Nicht-Akademiker-Haushalten – oder die Verantwortung für Familienmitglieder tragen. Dafür müssen Studien- und Rahmenprüfungsordnungen angepasst werden, digitale Prüfungen rechtssicher sein, die Lehr- und Lernräume entsprechend ausgestaltet sein etc. etc. Mein Aufgabenbereich sind dabei Wirkungsanalyse und Evaluation mit dem Ziel der Weiterentwicklung.

Das Projekt vereint vielfältige und unterschiedliche Teilprojekte zur Weiterentwicklung der Lehre an der HTW Berlin.  Allen gemein ist das Ziel, die Voraussetzungen für alle zu verbessern, die gerne studieren möchten, dies aber nicht vollkommen gradlinig, schnell und privilegiert bewerkstelligen konnten und können. Um diese Chancengleichheit müssen wir uns auch angesichts des gesellschaftlichen Wandels stärker bemühen, davon bin ich fest überzeugt.

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