Individuelle Ergonomie statt Geschlechterstereotype
Tim Schütze hat Industrial Design an der HTW Berlin studiert und fährt gerne Rad. Für seine Bachelorarbeit einen Fahrradsattel zu entwerfen, lag so fern also nicht. Doch das hätte dem Rat für Formgebung wohl kaum genügt, um den 26-jährigen aus über 250 Einreichungen als Finalist für die Kategorie „Newcomer“ des Deutschen Designpreis auszuwählen. Tim Schützes Anspruch war höher: Er kreierte keinen Sattel, sondern einen Prozess, an dessen Ende ein maßgeschneiderter Sattel für die Person steht, die ihre individuellen Daten eingegeben hat. „Ich wollte weg von konventionellen Exemplaren für Damen und Herren, weil sich dahinter eine gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechtsidentitäten verbirgt, mit der ich nichts anfangen kann“, sagt der HTW-Absolvent. Auch unisex-Versionen sind seiner Überzeugung nach keine Lösung. Denn erstens würden sie die menschliche Diversität verkennen, zweitens zum Erhalt patriarchaler Normen und Hierarchien beitragen.
Mein Beitrag zu mehr Gleichberechtigung
Eine klare Ansage, für deren Begründung Tim Schütze im designtheoretischen Teil seiner beeindruckend umfangreichen Arbeit alle großen feministischen Autorinnen rauf und runter dekliniert. „Ich habe dieses gesellschaftlich relevante Thema bearbeitet, um einen Beitrag zu mehr Gleichberechtigung zu leisten“, sagt er. Bei Prof. Pelin Celik, die seine Bachelorarbeit betreute, rannte er damit offene Türen ein. Ein weiteres Motiv sei der Umstand gewesen, dass er sich „als weißer, europäischer Cis-Mann, der eine Hochschule besuchen konnte“, seiner Privilegien sehr bewusst sei. Soviel zum theoretischen Hintergrund.
Alles läuft über das eigene Smartphone
Wie schaut das preisgekrönte Procedere nun in der Praxis aus? „Alles läuft über das eigene Smartphone“, erläutert Tim Schütze. Die gängigen Saddle Fitting-Verfahren, bei denen man spezialisierte Läden aufsucht und für die Vermessung des eigenen Körpers zahlt, kamen für ihn nicht in Frage. Dem HTW-Absolventen ging es um einen für alle Menschen zugänglichen, offenen und dezentralen Prozess, weshalb er seinem Konzept den Namen „PRO/CESS“ gegeben hat.
Eine App führt von Schritt zu Schritt
Herzstück ist eine ansprechend gestaltete App, die Nutzer*innen Schritt für Schritt zum maßgeschneiderten Fahrradsattel führt. Los geht es mit der Bestimmung des eigenen Sitzknochenabstands, wofür ein Muster zum Download zur Verfügung gestellt wird. Nutzer*innen drucken es im Format A4 aus, platzieren das Blatt Papier auf einer weichen Oberfläche und setzen sich bequem drauf. Mittels Bilderkennungstechnologie entsteht so ein präziser 3D-Abdruck des jeweiligen Hinterns. „Die Technik wird herkömmlicherweise angewandt, um Landschaftsmodelle aus Luftaufnahmen zu generieren“, sagt Tim Schütze. Doch sie lasse sich problemlos skalieren und für die Vermessung der Sitzbeinhöcker nutzen. Dass es funktioniert, hat er mit Freiwilligen getestet, die er über seinen Instagram-Kanal fand. Dabei hat sich übrigens auch die Vermutung bestätigt, dass die Abstände der Sitzbeinhöcker individuell variieren und nicht geschlechtsspezifisch zuzuordnen sind.
Alles passt zum Gewicht und zur Sitzposition
Aus dem dreidimensionalen Abdruck lassen sich weitere ergonomische Daten für den späteren Sattel ableiten. Im nächsten Schritt geht es an die Polsterung und die darunterliegende Basis. Auch an dieser Konstruktion hat Tim Schütze sorgfältig getüftelt, außerdem diverse Materialstudien angestellt. Die Härte des Polsters sowie Form und Größe der Basis korrespondieren mit dem jeweiligen Körpergewicht und der präferierten Sitzposition. Zu guter Letzt können Nutzer*innen persönliche Wünschen eingeben, beispielsweise die Farbe wählen oder die bevorzugte Oberflächenstruktur.
Zum Schluss die fertigen Daten für den 3D-Druck
Ganz am Ende bekommen sie die fertigen Druckdaten. Die können sie bei einem der immer zahlreicher werdenden 3D-Druck-Dienstleister persönlich abgeben, bei diversen Anbietern online hochladen oder in einer Microfactory produzieren lassen, also in einem Startup. Auf jeden Fall schwebt Tim Schütze eine dezentrale Herstellung des Fahrradsattels vor und keine Produktion in einem wo auch immer sitzenden Großkonzern. Dank 3D-Druck ist das problemlos möglich.
Leicht montierbar, recycelbare Materialien
In der ersten Prototyp-Phase bestand der Sattel noch aus einem separaten Gestell und Schienen, die zusammengesteckt und geklebt wurden. Version 2 kann bereits komplett aus einem 3D-Drucker kommen, ohne jedwede Nachbearbeitung. Die Basis besteht aus einem einzigen Druck, in den die Polsterung eingesetzt wird. „Alles ist leicht zu montieren und auszutauschen, die Materialien lassen sich außerdem recyceln“, ist Tim Schütze zufrieden. Er selbst hat mit dem Unternehmen Formlabs in Berlin einen kompetenten und kooperativen Partner gefunden. Erst hat Formlabs den innovativen Studenten bei seiner Bachelorarbeit unterstützt, inzwischen ist sein Sattel für das Unternehmen eine Art Referenzprodukt.
Tim Schütze stürzt sich ins nächste Projekt
Auf die Nachfrage, ob er sich mit seiner Idee selbstständig machen möchte, winkt Tim Schütze ab. Er sei kein Entrepreneur, das könnten andere besser. Ihm lag an der Gestaltung des Prozesses. Damit Anerkennung und Aufmerksamkeit gefunden zu haben, ist dem HTW-Absolventen, der gerade seinen Masterabschluss im Studiengang Produktdesign an der Berliner Universität der Künste macht, wichtiger als ein Unternehmen in Gang zu bringen. Tim Schütze stürzt sich lieber in neue Themen. Das Preisgeld in Höhe von 2.500 Euro investierte er in den Studio Space, den er zusammen mit anderen derzeit in Schöneberg aufbaut.