Ein Auto aus Sperrholz, überzogen mit Kunstleder
Die schwarzblaue, matt schimmernde Oberfläche sticht sofort ins Auge. Sie gibt Rätsel auf. Um welches Material mag es sich wohl handeln? Kunstleder! Darauf muss man erst mal kommen bei einem Automobil, das Wind und Wetter zu trotzen hat. Doch das ist bei weitem nicht die einzige Kuriosität des Lloyd LP 300. Dass diese und andere Besonderheiten wieder bewundert werden können, ist das Verdienst von Prof. Dr. Lutz Strobach und Studierenden der HTW Berlin. Vier Jahre lang, unterbrochen durch die Coronapandemie, restaurierten sie das Gefährt. Im Dezember 2023 kehrt der Wagen, der als „Leukoplastbomber“ in die Technikgeschichte einging, als Ausstellungsstück an das Deutsche Technikmuseum zurück.
Zeugnis der Technikgeschichte
Welches Ziel verfolgen Restaurator*innen, wenn sie den Auftrag bekommen, ein recht seltenes Automobil aus den 50-er Jahren, das jahrzehntelang im Depot schlummerte, aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken? „Wir tun alles dafür, es als technisches Kulturgut wieder lesbar zu machen“, beschreibt Prof. Dr. Strobach die Restaurierungsphilosophie. Dazu gehört auch, die historische Materialität bestmöglich zu erhalten. Da wird also kein Oldtimer runderneuert, auf Hochglanz poliert und wieder für den Straßenverkehr flott gemacht, sondern ein historisches Artefakt behutsam gereinigt, in seinen Einzelteilen stabilisiert und mitsamt diverser Nutzungsspuren konserviert, sodass Besucher*innen es im Museum als ein Zeugnis der Technikgeschichte bestaunen können.
Materialien waren damals Mangelware
Und Staunen ist angebracht angesichts der wundersamen Gemischtbauweise aus sehr viel Sperrholz, wenig Metall und elegant wirkendem, aber hochempfindlichem Kunstleder, dessen Anmutung tatsächlich an Leukoplast erinnert. „Der Lloyd LP 300 ist ein Produkt der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der Mangelwirtschaft herrschte und Materialien äußerst knapp waren“, erklärt Prof. Dr. Strobach. Er öffnet vorsichtig die Motorhaube und zeigt hinein. „Dieser Zweitaktmotor bringt mit 300 cm³ nicht mehr als sieben Kilowatt Leistung und taugt mit seinen zwei Zylindern eigentlich eher für ein Motorrad“, lächelt er. Etwa 70 Stundenkilometer dürfte das 480 Kilogramm leichte Fahrzeug geschafft haben, der Tacho reicht immerhin bis 100.
Sitzbezüge reinigen und stabilisieren
Behutsam senkt Prof. Dr. Strobach den Deckel wieder und man ahnt in diesem Moment, dass einem der Experte für Moderne Materialien und Technisches Kulturgut nicht gestatten wird, auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen. Natürlich nicht, denn dabei würden die Sitzbezüge Schaden nehmen, die sorgfältig mit sogenannten Bolus-Wassergemischen gereinigt, anschließend mit japanischem Kozo–Seidentextil stabilisiert und so vor dem drohenden Zerfall geschützt wurden. Diese Behandlung ist nur ein Beispiel für die kreative Fülle der restauratorischen Maßnahmen, welche die Studierenden im Schwerpunkt „Moderne Materialien und Technisches Kulturgut“ des Studiengangs Konservierung und Restaurierung / Grabungstechnik dem Lloyd LP 300 seit 2022 in vielen Stunden angedeihen ließen.
Kunstleder mit Lösungsmittel bedampfen
Nehmen wir den rechten Kotflügel: Hier musste das schon hart und spröde gewordene Kunstleder erst einmal mit dem richtigen Lösemittel bedampft werden, um es abnehmen zu können und an die darunter liegenden Schichten zu gelangen, deren Korrosion es zu stoppen galt. Mit einer falschen Substanz wären die Kunstlederpartien wohl gerissen und hätten nie mehr über die Karosserie gezogen werden können. „Ehe man als Restaurator Hand anlegt, ist immer eine sorgfältige Untersuchung und Bestandsaufnahme der Materialien gefragt“, sagt Prof. Dr. Strobach. Erst danach könne man entscheiden, zu welchen Reinigungsmitteln man greift, welche Werkzeuge sich für die Behandlung eignen und welche Methoden zur Anwendung kommen. Auch um die Konservierung der Gummireifen mussten sich die angehenden Restaurator*innen kümmern, um Felgen und Radkappen, den beim Unfall beschädigten Kühler aufarbeiten, dessen Verfall bereits eingesetzt hatte, und den Stoff des Fahrzeughimmels behandeln, in dem sich Reste von Spinnen, Milben und anderem Getier fanden.
Gegenstand eines interdisziplinären Lehrprojekts
Apropos Fahrzeughimmel: Weil im Lloyd LP 300 so viele verschiedene Textilien stecken, wurde seine Restaurierung auch Gegenstand eines interdisziplinären Lehrinnovationsprojekts mit dem bezeichnenden Namen „Expedition Nano“. An ihm beteiligten sich auch Prof. Dr. Lilia Sabantina aus dem Studiengang Bekleidungstechnik/Konfektion sowie Prof. Pablo Dornhege aus dem Studiengang Kommunikationsdesign. In studiengangübergreifenden Teams untersuchten Studierende die textilen Oberflächen mit dem Digitalmikroskop sowie in verschiedenen Textilprüfverfahren und visualisierten die Ergebnisse mithilfe von 3D-Technologien. Die dabei entstandenen Plakate sind nicht nur wunderbar anzuschauen, sondern auch informativ zu lesen. Sie setzen sich auch mit der NS-Verstrickung des Unternehmens Borgward auseinander, in dem der Lloyd LP 300 produziert wurde.
Auch andere Studiengänge halfen mit
Die Fächervielfalt der HTW Berlin ist überhaupt eine ideale Grundlage dafür, Projekte wie die Restaurierung des Lloyd LP 300 gewissermaßen „mit Bordmitteln“ zu bewältigen, freut sich Prof. Dr. Strobach. Er will nicht versäumen, den Studiengang Fahrzeugtechnik zu nennen, der das Knowhow sowie die Technik für das fachkundige Abnehmen der Räder und der Felgen vom Auto beisteuerte. Die Zentralwerkstatt wiederum half mit so mancher fehlenden Schraube und dem einen oder anderen Metallteil aus.
Der Lloyd darf zurück ins Berliner Technikmuseum
Vier Jahre nachdem mit einer akribischen Dokumentation des Fahrzeugs alles begonnen hat, kann Prof. Dr. Strobach eine erfreuliche Bilanz ziehen. Nicht nur die Lehre profitierte von der aufwändigen Restaurierung; deren Methoden und fachlichen Ansätze wurden in drei Masterarbeiten, sechs Bachelorarbeiten und etwa 20 studentischen Projektarbeiten beleuchtet und weiterentwickelt. Das Deutsche Technikmuseum ist sogar richtiggehend überrascht, wie viel die HTW Berlin aus dem alten Lloyd LP 300 herausgeholt hat. Bald wird er vom Campus Wilhelminenhof abgeholt und zurück ins Museum gebracht. Das ist gut so, denn Prof. Dr. Strobach braucht den Platz für die Restaurierung des nächsten mobilen Kulturguts. Dieses Mal hat er sich ein Flugzeug vorgenommen.