Die Kamera bleibt automatisch dran
Die Menschen auf der Bühne bewegen sich schnell, machen Sprünge, verschwinden, kehren wieder zurück. Ihre Mimik und so manche Geste blieben verborgen, wären da nicht bewegte Nahaufnahmen von Gesichtern und Körpern auf der Leinwand hinter der Bühne. So kann auch das Publikum in der allerletzten Reihe Wut erkennen, Resignation oder Hoffnung. Keine Seltenheit bei der Berliner Kompagnie ‚Nico and the Navigators‘. Die mit vielen Auszeichnungen bedachte Truppe ist bekannt dafür, dass sie digitale Komponenten in ihre Aufführungen integriert. Weil sie ihre künstlerische Sprache weiterentwickeln möchte, hat sie Prof. Dr.-Ing. Steffen Borchers-Tigasson aus dem Studiengang Elektrotechnik der HTW Berlin um Unterstützung gebeten. Der Experte für Automation und Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt nun die Kameratechnologie auf der Basis von KI weiter.
"Technologisch erst seit wenigen Jahren realisierbar"
Als die Anfrage kam, zögerte Prof. Dr.-Ing. Borchers-Tigasson keine Sekunde. Er hatte bereits privat Aufführungen von ‚Nico and the Navigators‘ besucht, auch solche mit Videoprojektionen. „Die Kompagnie ist ungeheuer technikaffin“, sagt er. Der Auftrag, ein automatisches, auf KI basierendes Kameratracking zu entwickeln, interessierte ihn sofort. „Technologisch ist das erst seit wenigen Jahren realisierbar“, sagt der Wissenschaftler. Gleichzeitig mache es ihm große Freude, Künstler*innen ein neues Werkzeug in die Hand zu geben und dadurch neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Mehr Freiraum für Tänzer*innen und Schauspieler*innen
Den Tänzer*innen und Schauspieler*innen auf der Bühne mehr Freiraum zu verschaffen, war exakt das Motiv von Auftraggeber Oliver Proske. Er hat ‚Nico and the Navigators‘ mit Nicola Hümpel vor 25 Jahren gegründet. Als Produzent und Geschäftsführer zeichnet der studierte Industriedesigner und Bühnenbildner bei vielen Produktionen verantwortlich für die Digitale Bühne, das Konzept und die passende Technologie. Diese Technologie ist ihm zu statisch geworden. „Sie schränkt die Künstler*innen ein“, findet er. Denn die Kameras müssen auf die Sekunde genau voreingestellt und sämtliche Mitwirkende exakt an fest definierten Punkten auf der Bühne sein, damit projektionsfähige Nahaufnahmen überhaupt möglich werden. „Um flexibler zu werden, haben wir lange selbst mit einem Sensorsystem experimentiert“, erzählt Proske. Doch mit den ästhetischen Resultaten sei man so unzufrieden gewesen, dass man Expertise gesucht habe.
Gefragt ist ein intelligentes System
Gewünscht wird ein intelligentes Kamerasystem, das Künstler*innen auf der Bühne automatisiert, aber völlig flexibel folgt, egal wie schnell die Bewegungen sind, und dabei Bilder erzeugt, die quasi in Echtzeit von der Kameraregie für die Projektionen ausgewählt werden können. „Die technischen Anforderungen sind hoch“, räumt Prof. Dr.-Ing. Borchers-Tigasson ein.
Menschen erkennen und ihnen folgen
Die Kamera muss erstens beweglich und in der Lage sein, selbstständig heran- und weg zu zoomen. Zweitens darf sie nicht nur Bilddaten in Gestalt von Pixeln übertragen. Sie muss vielmehr Menschen erkennen, ihnen zuverlässig folgen und sie im Zweifelsfall auch wieder aufspüren, wenn sie die Bühne kurz verlassen und später wiederkehren, was ja in Tanz und Theater regelmäßig passiert. Und wenn zwei Kameras auf ein und dieselbe Szene gerichtet sind, muss das System unterscheiden, wo ein und dieselbe Person agiert. Dem menschlichen Auge bzw. Gehirn fällt das leicht dank Haarfarbe, Körpergröße oder anderen Merkmalen. Die Kamera hat es ungleich schwerer. Sie muss eine Art Gesichtserkennung betreiben. „Genau an diesem Punkt kommt die künstliche Intelligenz ins Spiel“, sagt Prof. Dr.-Ing. Borchers-Tigasson.
"Eine Roboterkamera will aber niemand"
Stellt sich die Frage, ob ein so intelligentes System mittelfristig den Menschen hinter der Kamera überflüssig macht. Ganz im Gegenteil, sind alle Beteiligten überzeugt. „Eine Roboterkamera will niemand“, sagt Oliver Proske. Mit der Technologie würden vielmehr völlig neue künstlerische Ausdrucksformen entstehen. Genau daran haben ‚Nico and the Navigators‘ Interesse.
Künstlerisch anspruchsvolle Kameraregie
Folgendermaßen muss man sich das Szenario vorstellen, bei dem die neue Technologie zum Einsatz kommt: Während der Aufführung gehen bei der Kamerafrau Echtzeitbilder der im Raum positionierten Kameras ein. Deren Einstellungen kann sie mit einem sogenannten ‚Interface‘, also einer Schnittstelle, live verändern. Die Kamerafrau entscheidet dann, welche Schauspieler*innen in den Fokus genommen werden, ob die jeweilige Kamera näher rangeht, aus welchem Blickwinkel gefilmt wird und welche Bilder hinter der Bühne gezeigt werden. „Das ist ein kreativer und anspruchsvoller Prozess, der höhere Anforderungen stellt und gleichzeitig mehr künstlerischen Freiraum gibt“, findet Prof. Dr.-Ing. Borchers-Tigasson und spricht von „Kameraregie“.
Auch Studierende der Elektrotechnik waren beteiligt
Schritt für Schritt hat der Wissenschaftler das intelligente Kamerasystem in Zusammenarbeit mit der Kompagnie entwickelt. Auch Studierende der Elektrotechnik waren in der ersten Phase mit Abschlussarbeiten und Projektarbeiten beteiligt. „Studentisches Interesse zu wecken, war überhaupt nicht schwer“, freut sich der Hochschullehrer. Im Herbst hat er die Kompagnie in die Probenräume begleitet und die Technik an die dortige Umgebung und die Handlung angepasst.
Praxistest im Dezember im Berliner Radialsystem
Im Dezember 2023 wird das intelligente Kamerasystem bei der Wiederaufnahme des Stücks ‚sweet surrogates‘ zum ersten Mal in realer Umgebung getestet. Falls alles gut läuft, wird es auch für die Aufführung im Berliner Radialsystem genutzt, wo ‚Nico and the Navigators‘ regelmäßig auftreten. Prof. Dr.-Ing. Borchers-Tigasson wird natürlich nicht im Publikum sitzen, sondern backstage anzutreffen sein, Lampenfieber inklusive.