Finanztechnologie aus rechtlicher Sicht
Fintech, Crowdfunding, Smart Contracts: Diese Anglizismen stehen für den Einsatz innovativer Technologien, die Dienstleistungen, Produkte und Märkte im Finanzbereich in atemberaubender Geschwindigkeit verändern. Das Recht ist hier gefordert, geeignete Rahmenbedingungen auf nationaler, supranationaler und internationaler Ebene zu gewährleisten. Den hiermit verbundenen Fragen geht das im britischen Verlagshaus Routledge erschienene und den Namen des Verlags tragende „Routledge Handbook of Financial Technology and Law“ nach. Herausgegeben haben es Prof. Dr. Gudula Deipenbrock (Fachbereich 3) und Prof. Dr. Iris H-Y Chiu vom University College London (UCL). Im Interview geht die HTW-Expertin für internationales, europäisches und nationales Finanzmarkt - und Kapitalmarktrecht auf die Inhalte ein.
Warum bestand Bedarf an diesem Handbuch?
Prof. Dr. Deipenbrock: Die digitale Transformation treibt die Rechtswissenschaft seit geraumer Zeit um. Erstere ist gekennzeichnet durch kontinuierliche Beschleunigung und Vertiefung. Sie erfasst immer mehr Wirtschafts- und Lebensbereiche. Die Nutzung (digitaler) technologischer Innovationen im Finanzsektor entfaltet eine besondere Dynamik. Man spricht in diesem Zusammenhang - die Definitionen unterscheiden sich je nach Perspektive - auch von Fintech. Bekannte Beispiele für einen solchen Einsatz technologischer Innovationen sind - und auch hier haben sich englische Akronyme eingebürgert - Crowdfunding im Bereich Beteiligungsfinanzierung, Crowdlending im Bereich Kreditfinanzierung, Robo Advice im Bereich Kapitalanlage etc. Insbesondere die Blockchain-Technologie, Künstliche Intelligenz (KI) und Maschinelles Lernen (ML) kommen zum Einsatz. Marktstrukturen und Marktteilnehmer, Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen im Finanzsektor verändern sich kontinuierlich und grundlegend. Der englische Begriff des "moving target" trifft diesen Sachverhalt gut.
Die Corona-Pandemie scheint die Dynamik zu verstärken: Fintech erlaubt das Angebot von Finanzdienstleistungen auf Distanz. Den zahlreichen Vorteilen solcher Innovationen, hierzu zählt auch die Förderung finanzieller Inklusion, stehen jedoch zum Teil erhebliche Risiken gegenüber, insbesondere solche für Verbraucher, Anleger bzw. Nutzer sowie die Integrität und Stabilität des Finanzsystems. Wie können die Vorteile dieser Innovationen genutzt und gleichzeitig die damit verbundenen, zum Teil erheblichen Risiken eingedämmt werden? Diese Balance zu finden ist eine zentrale Aufgabe des Rechts und damit insbesondere der Rechtsetzer sowie Regulierungs- und Aufsichtsbehörden in Finanzmärkten weltweit.
Zahlreiche dringende Fragen sind zu beantworten. Sind die einzelnen Erscheinungsformen von Fintech von dem bestehenden nationalen, europäischen und internationalen Rechtsrahmen bzw. Regulierungs- und Aufsichtsregime (angemessen) erfasst? Welche Anpassungen oder Reformen sind notwendig, um eine effektive und effiziente Regulierung und Aufsicht einzelner Erscheinungsformen von Fintech zu gewährleisten? Inwieweit müssen neben Erscheinungsformen von Fintech auch die eingesetzten Technologien einer Regulierung und Aufsicht unterworfen werden, um die mit ihrem Einsatz verbundenen Risiken angemessen adressieren zu können?
Die Rechtswissenschaft nimmt bei der Beantwortung dieser dringenden Fragen eine zentrale Rolle ein. Sie ist objektiven und hohen wissenschaftlich-methodischen Standards verpflichtet und kann mit kritischen Analysen helfen, angemessene und nachhaltige rechtliche Lösungen zu finden. Das Handbuch möchte einen Beitrag hierzu leisten.
Von Ihnen stammt das erste Kapitel. Worum geht es?
Der Schwerpunkt meines Kapitels liegt auf den rechtswissenschaftlichen Herausforderungen, die sich aus dem Einsatz der Künstlichen Intelligenz (KI) und des Maschinellen Lernens (ML) insbesondere im Finanzsektor ergeben. Hier stellen sich vorab grundlegende rechtsmethodische und -systematische Fragen. Da ist zunächst das Problem, wie KI und ML für Zwecke der Regulierung und Aufsicht ihres Einsatzes definiert werden können. Auch stellt sich die Frage der Sachverhaltsermittlung, also der Feststellung des (jeweiligen) Status Quo der technischen Entwicklung und des konkreten Einsatzes von KI und ML. Notwendig ist auch, Regulierungsansätze für die Nutzung von KI und ML im Finanzsektor stets im Zusammenhang mit anderen, bereichsübergreifenden Nutzungsformen von KI und ML und deren Regulierung zu betrachten.
Das Kapitel setzt auf meinen vorangehenden Forschungen zu rechtspolitischen Initiativen und legislativen Vorstößen im Bereich der digitalen Transformation im Finanzsektor aus internationaler, europäischer und nationaler Sicht auf. Der Einsatz von KI und ML in einzelnen Wirtschaftssektoren und Lebensbereichen und darüber hinaus führt zu komplexen Rechtsfragen. Neben der rechtsmethodischen und - gestalterischen Herausforderung, die komplexen technologischen Bezüge des jeweiligen Sachverhalts richtig zu erfassen, gilt es, insbesondere finanzmarktrechtliche Vorgaben, aber auch grundrechtliche und ethische Fragestellungen bei der Nutzung von KI-Systemen zu adressieren.
Soeben hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für einen Rechtsrahmen für KI vorgelegt. Dieses unterstreicht die zentrale Bedeutung des Themas, aber auch, dass die Europäische Union sich hier - zu Recht - als wichtiger regulatorischer Schrittmacher positioniert. Und es zeigt erneut die Dynamik dieses Themengebiets: Nach dem Forschungsprojekt ist vor dem Forschungsprojekt. Nun steht die rechtswissenschaftliche Analyse der neuen und spannenden Entwicklungen seit dem Redaktionsschluss des Handbuchs an.
Welche Aspekte werden darüber hinaus erörtert?
Vorab sei der Hinweis erlaubt, dass wir aus einer sich ständig wandelnden Vielzahl von Erscheinungsformen von Fintech - auf die Dynamik habe ich bereits hingewiesen - eine exemplarische Auswahl treffen mussten. Eine solche Auswahl war jedoch nicht nur aus methodisch-inhaltlicher Sicht notwendig. Sie war auch geboten, um ein derart komplexes Publikationsprojekt mit einer Vielzahl von Autor_innen weltweit praktisch umzusetzen. Nur so ließen sich produktionstechnische Vorgaben wie Umfang und Fristen einhalten und das erforderliche "Herausgeber-Management" effektiv gestalten.
Vor diesem Hintergrund behandelt das Handbuch beides, wichtige grundlegende Fragestellungen zu Regulierung, einschlägigen (rechtlichen) Grundsätzen und Perspektiven ebenso wie Einzelbereiche oder Einzelaspekte von Fintech. Bei den letztgenannten adressieren die Kapitel des Handbuchs insbesondere Fintech in den Bereichen Kredit, Zahlungsdienste, Investment, Versicherungen, Kryptowährungen und Kryptowerte, Märkte und Handel, aber auch die Nutzung innovativer Technologien zur Erfüllung regulatorischer Vorgaben bzw. zur Überwachung ihrer Einhaltung durch die Regulierungs- und Aufsichtsbehörden. Unter den Einzelaspekten von Fintech sind ebenfalls die finanzielle Inklusion und Nachhaltigkeit adressiert.
Sie konnten renommierte internationale Autor_innen für das Handbuch gewinnen, erzählen Sie bitte mehr!
Nach der Auswahl von Themen für die Kapitel des Handbuchs waren wir gefordert, anerkannte rechtswissenschaftliche - und übrigens auch betriebswirtschaftliche - Expert_innen weltweit zu gewinnen. Mit uns Herausgeberinnen waren bereits unterschiedliche Rechtstraditionen "zusammengeführt", daher war es nur konsequent, diese Multiperspektivität auch für die Auswahl der Autor_innen von Kapiteln beizubehalten.
Das fiel erstaunlich leicht, da wir über internationale Forschungskooperationen und -projekte vernetzt und mit einschlägigen Veröffentlichungen vertraut sind. Das Thema Fintech lockt insbesondere jüngere Rechtswissenschaftler_innen, die aufgrund ihrer Sozialisation eine starke Nähe zu digitalen Instrumenten entwickelt haben. So gelang es, neben etablierten und renommierten Expert_innen im Bereich des Finanzmarktrechts auch (relativ) jüngere rechtswissenschaftliche Forscher_innen mit dem Schwerpunkt auf Einzelbereichen von Fintech zu gewinnen. Diese Diversität schafft eine inspirierende Bandbreite von Perspektiven.
Ich erinnere mich heute auch gerne daran, dass sich mir insbesondere während mehrwöchiger einschlägiger Forschungsaufenthalte in Großbritannien und Italien aus Anlass meines letzten Forschungssemesters 2019 die Gelegenheit zu inspirierenden Diskussionen und persönlichem Austausch zu Themen des Handbuchs boten. Dafür bin ich sehr dankbar. Übrigens organisieren wir gerade Webinare mit Kurzvorträgen von Autor_innen zu ausgewählten Themen des Handbuchs, um Letzteres auch auf diese Weise vorzustellen.