Zu Charlie Chaplin ist noch nicht alles gesagt
Spazierstöckchen, Melone, ein kleiner Schnurrbart, dazu eine schlotternde Hose und übergroße Schuhe: So kennt man Charlie Chaplin. „In der Rolle des ‚Tramps,‘ eines Landstreichers, ist er für viele Menschen die Verkörperung des ‚Underdogs‘ im Slapstick schlechthin“, sagt Prof. Dr. Ulrich Rüdel, Experte für Filmrestaurierung im Studiengang Konservierung und Restaurierung/Grabungstechnik. Doch über den wohl berühmtesten Mann der Menschheitsgeschichte sei längst nicht alles gesagt. Vielmehr: Es wurde noch nicht alles gezeigt. Für das renommierte Stummfilmfestival im italienischen Pordenone hat der Wissenschaftler gemeinsam mit dem Stummfilm-Experten Steve Massa über 30 Filme aufgestöbert, um neue Dimensionen zu beleuchten. Das Duo spürt den Inspirationsquellen des legendären Komikers nach, widmet sich den von ihm beeinflussten Künstler*innen, aber auch den zahllosen Imitatoren und nicht zuletzt seinem Arbeits-, Privat- und Familienleben. „Six Degrees of Chaplin“ haben sie ihre Auswahl genannt. Im Interview erzählt Prof. Dr. Rüdel mehr über seine Arbeit als Festival-Kurator und über die Entdeckungen, die er dabei gemacht hat.
Werden Chaplin-Filme noch immer geschaut?
Prof. Dr. Ulrich Rüdel: Oh ja, und sie begeistern das Publikum bis heute. Nur ein Beispiel: In Bologna waren im Juni 2025 sage und schreibe mehrere Tausend Menschen zur Vorführung der frisch restaurierten Fassung von „The Gold Rush“ gekommen. Sie fand open air und mit Live-Orchester auf dem zentralen Platz statt, exakt 100 Jahre nach der Uraufführung des Films. Charlie Chaplin ist meines Erachtens eine Persönlichkeit „larger than life“. Man kann und sollte sie aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten. Genau das tun wir mit unserem Programm „Six Degrees of Chaplin“.
Welche Perspektiven haben Sie gewählt?
Wir weiten den Blick auf das Phänomen Charlie Chaplin und bringen auch eine internationale Perspektive hinein. Steve Massa und ich haben Filme mit Künstlern oder Ideen von Film und Bühne ausgewählt, von denen Chaplin inspiriert wurde und solche, in denen sein Einfluss sehr stark zu spüren ist. Wir zeigen Streifen mit Schauspieler*innen, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben und von denen er gelernt hat. Von der großartigen und charmanten Komikerin Mabel Normand wissen wir zum Beispiel, dass sie Chaplin die Filmregie beigebracht hat. Spannend ist auch die Fülle der Imitatoren, von denen einige selbst großes Talent hatten. Wir zeigen Cartoons und Wochenschauen, die den Status des Künstlers als beispiellose Berühmtheit demonstrieren. Und wir bekamen Filme, in denen Chaplin Einblick in sein glückliches Familienleben im Schweizer Exil gibt. Insgesamt sind es etwa 30 Filme, die wir zu sechs Programmen von jeweils um die anderthalb Stunden zusammengestellt haben, plus vier Kurzfilme als „appetizer“ für andere Slapstick Sessions.
Ein Highlight bitte!
Die Weltpremiere der vom Museum of Modern Art frisch restaurierten Urfassung der Anti-Kriegskomöde „Shoulder Arms“ aus dem Jahr 1918. Sie wird von der Stummfilm-Community mit Spannung erwartet. Der deutsche Kaiser in „Shoulder Arms“ wird übrigens von Chaplins Halbbruder Sydney gespielt. Syd Chaplin ist heute deutlich weniger bekannt, war aber zu seiner Zeit ebenfalls ein sehr beliebter Komiker.
Wie aufwändig ist es, ein solches Programm zu konzipieren?
Man braucht schon Zeit. Von den ersten Ideen, die ich gemeinsam mit Steve Massa entwickle, bis zum fertigen Filmprogramm vergeht ungefähr ein Jahr. Wir spielen uns gegenseitig die Bälle zu, überlegen, welche Filme sich in welchen thematischen Zusammenstellungen eignen und wo wir sie herkriegen, ob sie im Zusammenspiel mit den anderen funktionieren, recherchieren die Verfügbarkeit und natürlich auch die Qualität. Manche Filme bekommt man zwar, aber sie befinden sich nicht in dem Zustand, in dem man sie guten Gewissens zeigen kann. Denn analoge Kopien verschleißen oder zerfallen im Laufe der Zeit oder sind noch nicht zur Vorführung kopiert oder digitalisiert. Das ist uns auch für diese Serie ein paar Mal passiert. Ein Film etwa, der wunderbar in unser Programm gepasst hätte, wies so starke Zersetzungserscheinungen auf, dass wir ihn nicht nehmen konnten. Wenn die Bildqualität eines Stummfilms nicht stimmt, bleibt die Pantomime schlicht auf der Strecke. Wir mussten also einen anderen Film wählen. Auf diese Art und Weise können sich Themenschwerpunkte eines Programms natürlich verschieben. Da muss man pragmatisch und auch kreativ sein, aber nicht selten spornt gerade dies neue Ideen oder Konzepte an.
In diesem Jahr haben wir sehr eng mit dem Direktor des Festivals, Jay Weissberg, zusammengearbeitet sowie der die Familie Chaplin vertretenden Association Chaplin mit Sitz in Paris, die über die meisten Rechte verfügt. Das Chaplin Office hat für uns sein Repertoire an Schätzen geöffnet und ermöglicht die Vorführung selten gezeigter Heimfilme, in denen wir etwa sehen, wie Ehemann und Vater Chaplin mit seiner Familie herumalbert, und am Set gedrehter Filme, die einen Einblick in Chaplins Leben, seinen prominenten Bekanntenkreis , seine Arbeitsweise und seine enorme Popularität geben.
Was gehört noch zur Arbeit eines Kurators?
Wenn das Konzept steht und die passenden Filme gefunden sind, muss man sich um den Katalog kümmern. Er ist ein wichtiges Handwerkszeug für das Publikum. Ohne Katalogbeiträge fehlt den Filmen der film- und zeithistorische Kontext. Wir haben eine den großen Bogen schlagende Einleitung für unser Programm verfasst, also für die „Six Degrees of Chaplin“, und diverse Autor*innen gewonnen, die mit uns Texte zu jedem einzelnen Film geschrieben haben.
Das Festival hat für Sie auch eine persönliche Bedeutung?!
Ja, das stimmt. Ich habe Stummfilme schon immer geliebt, aber das Festival in Pordenone zum ersten Mal im Jahr 2002 besucht. Von der angeregten Atmosphäre, von der Offenheit der Teilnehmer*innen und von dem Publikum war ich sofort eingenommen. Das Erlebnis bestärkte mich darin, mich intensiver in der Community zu vernetzen, meinen Job in der Biotech-Industrie an den Nagel zu hängen und mich der Filmrestaurierung zu widmen. In der Folge habe ich übrigens auch der HTW Berlin und dem Studiengang KRG einen Besuch abgestattet und meinen Vorgänger Martin Koerber kennengelernt. Damals feierte der Studiengang gerade sein zehnjähriges Bestehen. 2015 bin ich dann sein Nachfolger geworden.