Auch das NS-Regime nutzte die Disziplin BWL
Unternehmen, die zum Verkauf oder zur Übernahme anstehen, müssen erst einmal bewertet werden. Routine für Betriebswirt*innen, sie verfügen über passende Methoden und Ansätze. Doch was, wenn die Eigentümer*innen vorher durch Boykotte, Diskriminierung bei Aufträgen oder physische Gewalt vom Markt verdrängt wurden? Wenn sie in Vorbereitung ihrer Flucht unter Druck verkaufen mussten, wie dies Zehntausenden von jüdischen Kaufleuten im Nationalsozialismus widerfuhr? „Das NS-Regime nutzte die Unternehmensbewertung als Instrument, um ökonomisch von der Enteignung von Jüdinnen und Juden zu profitieren“. So lautet das Resümee von Prof. Dr. Regine Buchheim. Sie ist Expertin für internationale Rechnungslegung und externes Rechnungswesen und hat sich auf Spurensuche in der eigenen Fachdisziplin begeben. Ihre Erkenntnisse erschienen in einem Sammelband der Verlagsgruppe Springer Nature. Der Titel lässt das allerdings nicht vermuten. Er lautet schlicht „Unternehmensbewertung und ökonomische Analyse: Interdisziplinäre Aspekte zwischen Theorie und Praxis.“
Interesse in der Fachwelt und seitens der Medien
Es war nicht das erste Mal, dass sich die geschichtsbewusste Wirtschaftswissenschaftlerin der Materie widmete. Vor einigen Jahren untersuchte Prof. Dr. Buchheim die in den 1990er Jahren geöffneten Aktenbestände des Reichsfinanzministeriums und des Reichsfinanzhofs. Sie sind fast vollständig überliefert und befinden sich heute im Bundesarchiv. Ihre akribischen Ausführungen darüber, wie angeblich neutrale Beamte der Finanzverwaltung auf der Basis des Steuer(un-)rechts zur Judenverfolgung in der NS-Zeit beitrugen, stießen und stoßen bis heute auf Interesse, in der Fachwelt genauso wie bei den Medien. Zuletzt kam die HTW-Ökonomin im Oktober 2024 in einer ZDF-Dokumentation von Terra X History zu Wort. „Man muss vom Finanztod der Jüdinnen und Juden als einer Vorstufe der physischen Vernichtung sprechen“, fasste sie ihre Forschungsergebnisse in einem Satz zusammen.
Anfrage von einem Schweizer Kollegen
Jetzt also das Thema Unternehmensbewertung im Nationalsozialismus. Ob sie die Materie in einem Sammelband darstellen wolle, fragte ein Schweizer Kollege an. Prof. Dr. Buchheim zögerte keine Sekunde und sagte einen Beitrag zu. Denn: „Ich hatte mich während des Aktenstudiums der Finanzbehörden schon immer gefragt, wie man sich in diesen Zeiten des Unrechts eigentlich auf einen Preis geeinigt hat“, sagt sie. Von Einigung, das weiß sie nach Abschluss ihrer Forschung, kann im Zuge der sogenannten „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft keine Rede sein. Der Begriff „Arisierung“ meint die juristische Übertragung von Vermögenswerten aus jüdischem in sogenanntes „arisches“ Eigentum, wobei die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935 zugrunde gelegt wurden; für die Definition als Jüdin oder Jude war die Konfession der vier Großeltern ausschlaggebend.
Die sogenannte "Arisierung" verlief in zwei Phasen
In ihrem 15-seitigen Beitrag in dem Sammelband beschreibt Prof. Dr. Buchheim zwei Phasen der sogenannten „Arisierung“. „Die erste Phase datieren Historiker*innen bis Ende 1937“, sagt sie. In dieser frühen Phase mussten Zehntausende jüdische Besitzer*innen ihre kleinen Betriebe einstellen oder für einen Bruchteil des eigentlichen Werts verkaufen. „Es existieren dazu aber kaum Unterlagen, schon gar nicht zu den realen Werten dieser Betriebe, da keine unabhängige Bewertung oder Transaktionen unter Marktbedingungen stattfanden“, stellte sie fest. In der Regel hatten Käufer kein Interesse daran gehabt, den Erwerb nach außen als einen außergewöhnlichen Vorgang erscheinen zu lassen. Vielmehr sollte alles ganz normal wirken. Verträge und vor allem Dokumente fehlen meist; und wenn sie vorliegen, stellen sie die Historiker*innen vor große Probleme, weil viele mit dem Lesen zwischen den Zeilen überfordert seien, zitiert sie einen Kollegen.
Phase 1: Schikanen oder Boykotte
In Kleinstädten waren persönliche Schikanen der einfachste Weg, um Juden zur Aufgabe oder zum Verkauf unter Wert zu nötigen. Wenn die SA im Weihnachtsgeschäft jüdische Geschäfte einfach komplett blockierte, bedeutete das Schnäppchenzeit für die „arische“ Konkurrenz, nennt Prof. Dr. Buchheim ein Beispiel. In größeren Städten und bei größeren Betrieben führten Kreditbeschränkungen, Anzeigen wegen angeblicher Devisen- oder Steuervergehen oder Boykottmaßnahmen seitens „arischer“ Firmen und der öffentlichen Hand zu demselben Ergebnis.
Mehr als die Hälfte der jüdischen Betriebe verschwanden
Häufig habe das Interesse gar nicht in der preiswerten Übernahme gelegen, sondern in der günstigen Gelegenheit, Konkurrenten im Markt einfach auszuschalten. Schätzungen zufolge wurden in Deutschland mehr als die Hälfte der jüdischen Geschäfte und Betriebe liquidiert, also ohne Übertragung an Dritte aufgelöst. Profiteure waren Privatpersonen, Unternehmen und Verbände; häufig sorgten Gauwirtschaftsberater der NSDAP oder andere Funktionäre für „Spenden“ an lokale Parteiorgane.
Phase 2: Gesetzlich geregelte Ausschaltung
Die zweite Phase bezeichnet die Wissenschaftlerin als „gesetzlich geregelte Ausschaltung der Juden aus der deutschen Wirtschaft“. Man schrieb das Jahr 1938, von den rund 100.000 jüdischen Betrieben des Jahres 1932 waren noch etwa 40.000 übrig. Sie mussten laut Gesetz nun zum Zweck ihrer endgültigen „Arisierung“ systematisch erfasst werden. „Eine Zäsur in vielerlei Hinsicht“, sagt Prof. Dr. Buchheim. Während bis dahin alles ohne fiskalische oder staatliche Regelung passiert war, wollte das Reichsfinanzministeriums nun in Form einer sogenannten Arisierungssteuer vom Zugewinn durch den Eigentümerwechsel und der damit verbundenen Erhöhung des Unternehmenswerts profitieren. Wirklich funktioniert habe das zwar nicht, stellte sie fest. Einige Unternehmen hätten durchaus bezahlt, doch vor Ort sei die Steuer mehr oder weniger ausgehebelt worden, weil es fortwährende Streitigkeiten zwischen der NSDAP bzw. der für die Wirtschaft zuständigen SS und dem Finanzministerium gegeben habe. Auch der Reichsfinanzhof habe sich in mehreren Urteilen zur Arisierungsabgabe widersprochen.
Bei den jüdischen Verkäufern kam wenig an
Bei den jüdischen Verkäufer*innen kam zudem in keiner der beiden Phasen viel vom Verkaufspreis an: 25 Prozent des Vermögens wurde als Reichsfluchtsteuer fällig; die Bankkonten waren in der Regel bereits durch die Finanzämter gesperrt. Ende 1938 wurde ein weiteres Viertel des Vermögens durch die Sondersteuer „Judenvermögensabgabe“ abgeschöpft. Ab 1941 wurden die Geflüchteten bzw. Deportierten dann vollständig zugunsten des Deutschen Fiskus enteignet.
Auch Wissenschaftler*innen unterstützten
Wenn man Prof. Dr. Buchheim fragt, was sie während des Quellenstudiums und ihrer Literaturrecherche besonders betroffen gemacht hat, nennt sie zwei Punkte. „Während der NS-Zeit hing der Wert eines Unternehmens wesentlich davon ab, ob er in der Hand eines Juden oder in der eines Nichtjuden war“. Diese grausame Logik der sogenannten "Arisierungen" habe sie in ihrem vollen Ausmaß erst bei der Beschäftigung mit dem Thema realisiert. Und der zweite Aspekt: Auch Wissenschaftler*innen sprangen den nationalsozialistischen Machthabern zur Seite. An der Universität Heidelberg stieß sie beispielsweise auf eine betriebswirtschaftliche Doktorarbeit aus dem Jahr 1941, die sich mit der „Überführung jüdischer Betriebe in deutschen Besitz“ auseinandersetzte.
Das nächste Thema steht schon fest
War das seinerzeit ein besonderer Fall oder eine ganz normale Dissertation, fragte sich die Wissenschaftlerin. Und stieß in Heidelberg auf einige Arbeiten ähnlichen Kalibers. Im März 1945 verteidigte ein Promovend seine Erkenntnisse zum „Arbeitsleistungsvergleich aufgrund der Leistungen verschiedenartiger Volksstämme“. In diesem Moment hatte Prof. Dr. Buchheim ihr nächstes Forschungsthema gefunden. Mit den Vorbereitungen hat sie inzwischen begonnen. Sie verfügt bereits über eine Vollerhebung aller rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Dissertationen aus dem deutschen Sprachraum während der NS-Zeit. 2338 Arbeiten stehen in der Excel-Tabelle, bei deren Zusammenstellung ihre Studentische Hilfskraft unterstützte. Der Professorin ist es wichtig, die Betriebswirtschaftslehre in einen gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontext zu stellen und daraus zu lernen.