Spielend (leicht) lernen

Rote Würfel liegen in einer Hand. Die Person wird gleich würfeln.

Schüsseln, Streichhölzer, Würfel – wenn BWL-Studierende den Seminarraum von Prof. Dr.-Ing. Claudia Hentschel betreten, finden sie manches Mal ungewohnte Unterrichtsmaterialien vor. Dahinter steckt ein besonderes Lehrkonzept, das 2024 den Preis für gute Lehre gewonnen hat. Im Interview gibt Hentschel ein paar Einblicke in ihre Veranstaltung „Methoden der Produktentstehung“.

Wofür nutzen Sie Schüsseln, Streichhölzer und Würfel im Unterricht?

Hentschel: Mit diesen Materialien simulieren wir spielerisch Grundformen der Fertigungsorganisation. Die Streichhölzer stellen Bauteile oder Baugruppen dar. Mit dem Würfel werden Kapazitäten erzeugt, die Schüsseln stehen für unterschiedliche Stationen im Produktionsprozess, z. B. Anlieferung, Lager und verschiedene Maschinen. An jeder Station sitzt ein Student oder eine Studentin und „bearbeitet“ Streichhölzer. Dabei läuft natürlich nicht alles nach Lehrbuch, sondern es passieren all die Dinge, die auch in der realen Produktion schieflaufen können: Es gibt zu viele oder zu wenige Teile an einer Station, Streichhölzer fallen herunter und gehen verloren usw. – all das wird wesentlich anschaulicher und von Studierenden besser erinnert, wenn sie es in der spielerischen Simulation selbst erleben.

Warum müssen BWL-Studierende sich mit der Produktion auskennen?

Hentschel: Die Studierenden werden später zwar nicht unmittelbar Maschinen bedienen, aber sie müssen planen und Entscheidungen bezüglich Produktfunktion, -struktur, Fertigung und Montage treffen. Denn mit unterschiedlichen Entscheidungen legen sie auch spätere Kosten fest. Um eine fundierte Auswahl treffen und später Verantwortung übernehmen zu können, brauchen die Studierenden Bewertungskriterien. Produktentwicklung und -realisierung sind in den letzten Jahren sehr komplex geworden – da geht es nicht mehr nur um unterschiedliche technische Verfahren, sondern auch um Nachhaltigkeit, Ressourcenknappheit, Prozesseffizienz, rechtliche Rahmenbedingungen – und den Einsatz von KI. Deshalb müssen Betriebswirt*innen die verschiedenen Rollen, Methoden und Verfahren in der Produktentstehung kennenlernen, und deshalb müssen sie sich auch mit der technischen Machbarkeit auskennen. Zum Ende des Semesters besuchen wir wo immer möglich echte Produktionsfirmen der Industrie und hören Gastvorträge aus der Praxis. Oft erkennen Studierende dann, dass dort im großen Stil das passiert, was wir mit einfachen Materialien im Seminarraum nachgestellt hatten.

Wie wird z. B. KI für die Produktentwicklung eingesetzt und wie erklärt man so ein komplexes Thema mit Spielmaterialien?

Hentschel: Die heutige Produktion wird bestimmt von zahlreichen Zielkonflikten. Eine Verpackung oder eine Flugzeugtrennwand sollen möglichst stabil, aber gleichzeitig sehr leicht sein. Sie sollen viel Inhalt oder Fläche abdecken, aber möglichst wenig Material verbrauchen und z. B. auch noch Nebenbedingungen der Logistik erfüllen, die vorgegeben sind. Zugleich sind Kundenanforderungen zu bedienen, die nicht immer klar formulierbar sind. In solchen Fällen gibt es kein „optimales“ Produkt im mathematischen Sinne mehr, sondern allenfalls geht es darum, eine gute Lösung zu finden. Man kann sich in der Entwicklung annähern, indem man viele Varianten generiert. Genau das kann KI sehr schnell: Durch die zufällige Variation und Kombination von Eigenschaften, entsteht eine Vielzahl neuer Ergebnisse – ähnlich wie in der Evolution, die man aus dem Biologieunterricht kennt. Diese „zufällige Variation“ erreichen wir im Unterricht ganz einfach durch Würfeln. Stück für Stück entstehen durch Übersetzung gewürfelter Zahlen neue Produktparameter. Die eigentliche Kunst besteht darin zu beurteilen, mit welcher Variante das komplexe Ziel erreicht wird. Oftmals kommen dabei Formen heraus, die nur mit Hilfe additiver Fertigungsverfahren, bekannt als 3D-Druck, herstellbar sind. Auch dazu lernen die Studierenden dann die gesamte Prozesskette bis zur Realisierung kennen. Anhand solcher ganz realen, industriellen Anwendungsprobleme können Studierende spielerisch nachvollziehen, was im Hintergrund einer KI passiert und wie das später umsetzbar wäre. Und sie verstehen, wie wichtig die abschließende Beurteilung der Ergebnisse durch den Menschen bleibt.

BWL ist ein Studiengang mit vielen Studierenden. Wie binden Sie alle gleichermaßen in den Unterricht ein?

Hentschel: Der Jahrgang wird jeweils in zwei Gruppen eingeteilt mit etwa 25 Teilnehmenden. Jede Veranstaltung besteht aus einem theoretischen Input und einem eher spielerischen Praxisteil. Die Spiele funktionieren überwiegend auch in größeren Gruppen, wenn man das Material skaliert. Wenn Studierende bei Gruppenspielen nicht mitmachen wollen, können sie auch beobachtend teilnehmen und bekommen eine entsprechende Rolle übertragen. Nicht selten kommt es vor, dass Beobachter*innen plötzlich doch sehr aktiv dabei sind, wenn sie den anderen Tipps für den nächsten Spielzug geben wollen. Am Ende der Praxisphase diskutieren alle ihre Erfahrungen und Ergebnisse im Plenum. Bei dem Schüssel-Beispiel sitzen dagegen nur ein paar Studierende vorn und demonstrieren eine Fertigungslinie, während alle anderen die Rolle von Beratern einnehmen. In so einem Fall motiviere ich die nicht spielenden Studierenden zu neuen Lösungen, indem ich konkrete Fragen zu dem stelle, was vorne passiert. Wenn ein Streichholz fehlt, der Würfel eine 1 statt einer 6 zeigt oder gar herunterfällt, frage ich beispielsweise: „Was könnte hier gerade in einer realen Fertigung passiert sein?“ So entsteht eine Diskussion und es weitet sich der Blick, worauf später in der Realität zu achten ist. 

Warum wird nicht online gespielt, sondern mit realen Objekten zum Anfassen?

Hentschel: Ich komme aus der Welt der physischen Produktion, die nach wie vor für Deutschland als Industriestandort wichtig bleibt. Es scheint mir auch immer noch viel einfacher, Bits und Bytes zu manipulieren, als Atome und Moleküle (lacht). Es wird weiter Elemente geben, die nicht ins rein Digitale übertragen werden können. Nehmen wir z. B. die Montage eines Produktes oder seinen Transport – ich erinnere an das fehlende Streichholz und den heruntergefallenen Würfel – all das bildet die Komplexität des realen Lebens. So etwas ist online kaum abzubilden. Da passt alles meist zueinander und alles hat einen definierten, überschaubaren Platz. Hinzu kommen begrenzte Rechenkapazitäten: Auf manch einem Computer dauern Spiele mit großen Gruppen sehr lange oder laufen nicht flüssig. Auch ist ein schneller Rollenwechsel oder das Beobachten von außen viel schwerer möglich. Und es fehlen bestimmte Sinneseindrücke, z. B. die reale Größe des Produktes oder auch nur die Größe von Spielkarten, die in einem meiner Spiele wichtig ist. Bestimmte Spielmaterialien wie Steckbausteine können ebenfalls schlecht in eine digitale Version übersetzt werden, wenn mehrere Personen bauen sollen. Und insgesamt bin ich davon überzeugt, dass Dinge, die man real sehen und anfassen konnte, die Theorie dahinter besser im Gedächtnis verankern. 

Wenn Präsenz so wichtig ist – wie erreichen Sie Studierende, die aus persönlichen Gründen viel online lernen müssen?

Hentschel: Ich organisiere die Veranstaltung komplett über Moodle. Dort werden alle Materialien bereitgestellt und in Wochenpakete unterteilt, so dass immer erkennbar ist, was behandelt wird, aber auch asynchron gelernt werden kann. Zu unveränderlichen Fachthemen stelle ich teils vertonte Folien als Audiovideo zur Verfügung. Ansonsten findet man dort zusätzlich Lesestoff, darunter Beiträge von mir, ganz aktuelle Artikel aus Tageszeitungen und alle wichtigen Semestertermine, z. B. zu Exkursionen. Für besondere Situationen, wie z. B. einen Bahnstreik, habe ich auch immer Equipment in der Tasche, um notfalls einen Live-Stream der Veranstaltung anbieten zu können. Es gibt also durchaus viele Möglichkeiten für ein Selbststudium. Dennoch fehlen natürlich die praktischen Übungen, Firmenbesuche und Interaktionen mit der Gruppe. Das reine Selbststudium ist sicherlich schwerer - dass es dennoch im Ausnahmefall möglich ist, haben ein paar Studierende trotz ihrer besonderen Umstände schon bewiesen.

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