Die künftige Energieversorgung im Blick

50 Hertz müssen es sein. Diese Spannung wird im haushaltsüblichen Stromnetz benötigt, damit Bürocomputer laufen, Beatmungsgeräte in Kliniken funktionieren und Wärmepumpen ihren Dienst tun. 50 Hertz müssen es auch dann bleiben, wenn im Zuge der Energiewende immer weniger Kohle und Erdgas verbrannt und stattdessen Erneuerbare Energien zum Einsatz kommen. Letztere sorgen naturgemäß für größere Schwankungen im Netz, weil beispielsweise der Wind nicht konstant weht oder die Sonne hinter Wolken verschwindet. Der Frage, wie diese Schwankungen kompensiert werden können, gingen Wissenschaftler*innen und Industriepartner aus vier Ländern mit Förderung der Europäischen Union im Forschungsprojekt „POSYTYF“ nach. Im Mai 2024 wird es nach vier Jahren abgeschlossen. Der anspruchsvolle Part des HTW-Teams: die Entwicklung und Erprobung jener Kraftwerkssysteme, mit denen die Erneuerbaren Energien eingespeist werden.

Neue Regelstrategien für die Einspeisung

Damit lag eines von insgesamt fünf umfangreichen technischen Arbeitspaketen auf dem Tisch von Prof. Dr. Horst Schulte, Prof. Dr. Jens Fortmann, Prof. Dr. Norbert Klaes und Prof. Dr. Jochen Twele. Die Energieexperten im Fachbereich 1 banden außerdem eine Reihe von wissenschaftlichen Mitarbeitern ein. Es galt, Regelstrategien zu konzipieren und auch zu testen, auf deren Grundlage erneuerbare Energiequellen in jene dynamischen und virtuellen Kraftwerke eingespeist werden, die perspektivisch in der Lage wären, die Aufgaben von konventionellen Großkraftwerken in unserem Energieversorgungssystem zu übernehmen. Wie komplex die Methoden und mathematischen Modelle waren, mit denen das Team zugange war, vermag man als Laiin nur zu erahnen. Selbst im kompakten Ergebnispapier, das für ein interessiertes Fachpublikum gedacht ist, tauchen noch viele Formeln auf.

Virtuelles Kraftwerk im Miniaturmaßstab

„Um Methoden und Modelle entwickeln und anschließend verschiedene Szenarien simulieren zu können, haben wir ein solches dynamisches, virtuelles Kraftwerk im Miniaturmaßstab nachgebaut“, erläutert Prof. Dr. Schulte. Er nennt die Anlage einfach nur „DVPP“, also „Dynamic Virtual Power Plant“, denn der wissenschaftliche Austausch findet fast immer in englischer Sprache statt. Das DVPP im hochschuleigenen Prüfstand war klein genug, um damit wissenschaftlich arbeiten zu können, aber groß genug, um die komplexen Prozesse im Energienetz abzubilden. Es entsprach einem konventionellen Großkraftwerk und sollte sich auch genauso verhalten. Das heißt: Die Anlage muss u.a. reagieren, sobald „Last zugeschaltet wird“, wie es in der Fachsprache heißt, wenn also der Strombedarf im Netz zunimmt. Und sie muss reagieren, wenn die Last abfällt, aus welchen Gründen auch immer.

Separate Untersuchung der Energiequellen

Für die Ausarbeitung der Regelstrategie mussten die verschiedenen Erneuerbaren Energien, nämlich Photovoltaik, Windenergie, Solarthermie, Wasserkraft und Biogas, separat untersucht werden. „In ihrer Einspeisedynamik unterscheiden sie sich nämlich erheblich“, erklärt Prof. Dr. Schulte. Photovoltaikmodule reagieren schneller als Windturbinen, bei denen schwere Teile bewegt werden. Noch langsamer verhält sich die Wasserkraft. Diese Unterschiede zu berücksichtigen, ist technisch kein Problem. Doch sie müssen eben erst einmal präzise bis auf einen Bereich zwischen einer Sekunde und 20 Millisekunden berechnet werden. „Man muss genau wissen, wie schnell die Anpassung vollzogen werden kann und wo ihre Grenzen liegen“, beschreibt Prof. Dr. Schulte die Herausforderung. Nur dann kann das DVPP wie ein konventionelles Kraftwerk funktionieren, das mit Gas, Kohle oder Kernkraft betrieben wird und in der Lage ist, Schwankungen mit einer robusten Synchronmaschine zu kompensieren.

Kooperation auf europäischer Ebene

Unter welchen Bedingungen die schon erwähnten erneuerbaren Energien stabil in ein dynamisches, virtuelles Kraftwerk integriert werden können, hat das HTW-Team für das Projektkonsortium präzise berechnet, simuliert, erprobt und sorgfältig dokumentiert. Alles ist komplett einsehbar und kann nachvollzogen werden. „Unsere Ergebnisse bringen das DVPP vom Technologiereifegrad (TRL) 1-2 auf den TRL 4“, schreiben die Wissenschaftler. Dabei haben sie eng mit anderen Hochschulen zusammengearbeitet. Besonders wichtig waren Kolleg*innen an der École Centrale de Nantes, bei der auch die Gesamtleitung des Projekts lag, sowie an der spanischen Universitat Politechnica de Catalunya (UPC), in der letzten Phase auch an der ETH Zürich. Diese europäische Zusammenarbeit hat Prof. Dr. Schulte zwar als nicht immer einfach empfunden. Immerhin waren zwischen 30 und 40 Akteur*innen beteiligt, darunter auch diverse Partner aus der Industrie. „Doch es war sehr bereichernd und wir waren deutlich mehr als eine Beutegemeinschaft“, ist er zufrieden.

Passend dazu: ein europäischer Exzellenz-Studiengang

Sogar ein neues, fachlich passendes Studienangebot ist entstanden: der interdisziplinär angelegte Master-Studiengang „Dynamics of Renewables-based Power Systems“ (DREAM). Mit der HTW Berlin, der französischen École Centrale de Nantes und der spanischen UPC sind gleich drei Partner aus dem Projekt mit im Boot. Sie bieten den ingenieurwissenschaftlichen Studiengang gemeinsam mit der Polytechnischen Universität Bukarest an. Er beschäftigt sich mit der Modellierung, Simulation, automatisierten Regelung und Steuerung von elektrischen Energiesystemen, hat einen Fokus auf regenerativen Energien und führt zum Doppel- oder Dreifachabschluss. Prof. Dr. Schulte ist froh über den europäischen Exzellenz-Studiengang. Er gibt dem Hochschullehrer die Möglichkeit, gute Studierende an die Materie heranzuführen, den einen oder anderen Doktoranden zu gewinnen und die Besten in große Projekte wie „POSYTYF“ einzubinden. „Überhaupt müssen wir bei der Energieversorgung in europäischen Dimensionen denken“, sagt der Wissenschaftler. Schließlich kann im Süden mehr Sonnenenergie gewonnen und im Norden mehr Windenergie erzeugt werden. Diese beiden Erneuerbaren Energien wachsen derzeit am stärksten und ihnen wird nach Einschätzung von Prof. Dr. Schulte auch die größte Bedeutung für die Energiewende zukommen.

Erkenntnisse in der Energiebranche kommunizieren

Ihre Erkenntnisse und Ergebnisse werden die POSYTYF-Partner in Fachausschüssen und auf anderen Ebenen verbreiten. Die Energiebranche hat viele Stakeholder, die Interesse daran haben. Die sogenannte „Dissemination“ war und ist sogar ein eigenes Arbeitspaket.

Neue Fragen wurden schon formuliert

Ein Forschungsprojekt wäre freilich kein Forschungsprojekt, hätten die Wissenschaftler nicht schon neue Fragen herausgearbeitet, auf die es Antworten zu finden gilt. Eine ist die nach der Verschränkung der Elektrizität mit der Wärmeversorgung. Für die Energiewende muss nicht nur die Erzeugung der elektrischen Energie „orchestriert“ werden, wie es Prof. Dr. Schulte formuliert. Vielmehr müsse das auch mit den Verbrauchern der elektrischen Energie, wie z.B. bei Wärmepumpen, geschehen, zu denen nicht zuletzt die Privathaushalte und kommunale Einrichtungen zählen. Damit auch die Wärmewende irgendwann gelingt.

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