Realität vs. Lehrbuch: Lehre braucht Kontext

Prof. Dr. Matthias Strobel, Simon Schäfer und Victoria Klemm © Florian von Ploetz

Erinnern Sie sich noch an die klassische Physik-Aufgabe über die rollende Kugel auf der schiefen Ebene? Gut! Und jetzt überlegen Sie mal, warum es z. B. für Elektrotechniker*innen wichtig sein könnte, die physikalischen Hintergründe dieser Aufgabe zu verstehen. Das fällt auf den ersten Blick eher schwer, oder? So geht es auch vielen Studierenden. Das Fach Physik gehört in insgesamt neun Studiengängen der HTW Berlin zur Grundlagenausbildung. Doch die Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Studienfach und typischen physikalischen Problemen aus dem Lehrbuch sind dabei nicht immer nachvollziehbar – bis jetzt!

Denn ein Team aus Prof. Dr. Matthias Strobel, Victoria Klemm und Simon Schäfer möchte diese Situation mit einem Lehrprojekt verbessern. Ihr Ziel war es, exemplarisch für zwei Studiengänge, die Lehrinhalte besser in den jeweiligen Kontext des Studiengangs einzubetten und dadurch Motivation, Identifikation und Praxisbezug zu steigern. Im Wintersemester 2021/22 wurde das Projekt für eine Förderung durch den Lehrinnovationsfonds ausgewählt. Im Interview mit Prof. Strobel und Herrn Schäfer sprechen wir über Details und Hintergründe des Projekts.

War die Förderung durch den Lehrinnovationsfonds der Anstoß für die Umsetzung Ihrer Ideen?

Strobel: Ja! Ohne ein konkretes Projekt und die Unterstützung durch unsere geförderte studentische Hilfskraft Elias Weber hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft unsere Ideen umzusetzen. Wir wollten wissenschaftlich fundiert arbeiten und haben allein in die Recherchephase sehr viel Energie gesteckt. Neben der Kontextualisierung wollten wir ja auch Materialien entwickeln, die sich auf weitere Grundlagenmodule gut übertragen lassen. 

Welche zwei Studiengänge haben Sie für Ihr Projekt ausgesucht und warum?

Strobel: Aus unserer Sicht kann man die Studiengänge im Fachbereich 1 in zwei Gruppen einteilen, einerseits mit dem Schwerpunkt auf Energie und andererseits mit dem Fokus auf IT. Zudem war es uns wichtig, dass es Studiengänge sind, in denen wir selbst als Lehrende aktiv sind, damit wir an bestehende Lehrinhalte gut anknüpfen sowie neue Materialien direkt im Unterricht einsetzen und erproben können. Daher ist unsere Wahl auf Elektrotechnik und Computer Engineering gefallen. Im letzteren konnten wir zudem bei der Erstellung der Fragebögen und der Durchführung der Interviews mit dem Curriculum Innovation Hub - Projekt in der Mathematikzusammenarbeiten.

Wie genau schaffen Sie es, die Fachinhalte aus der Physik in den jeweiligen Kontext des Studiengangs einzubetten?

Strobel: Im Grunde geht es darum, konkrete Beispiele zu finden, in denen das physikalische Wissen benötigt wird. Dazu haben wir uns die Lehrinhalte von höheren Semestern und Situationen in den späteren Berufsfeldern des jeweiligen Studiengangs angeschaut, indem entsprechende Themen, Kompetenzen und konkrete Anwendungsfälle durch leitfadengestützte Interviews mit jeweils fünf bis sieben Modulverantwortlichen pro Studiengang herausgefiltert wurden. Außerdem haben wir Fachbücher in der Bibliothek gewälzt. Im nächsten Schritt folgte die Suche nach Überschneidungen – also Beispielen, die für beide Studiengänge interessant sind. Danach konnten die Materialien umgesetzt werden, und zwar so, dass die Lehrinhalte anhand der recherchierten Beispiele vermittelt werden.

Wie sehen die neuen Lehrmaterialien dann genau aus?

Schäfer: Wir haben hauptsächlich in Moodle* neue Aufgaben erstellt, die Lehrende flexibel in Ihre Lehrveranstaltungen einbinden können. Es funktioniert ähnlich wie ein Baukastensystem: Man kann entweder einzelne Aufgaben herausgreifen oder sie als aufeinander aufbauenden, durch eine Geschichte verbundenen Block nutzen. Beispielsweise gibt es einen Aufgabenblock zum Themenkomplex Kinematik. Die übergeordnete Aufgabe besteht zum Beispiel darin, den Pakettransport für ein Logistikunternehmen zu automatisieren. Wir haben also ein horizontales Transportband und einen Kran, an denen wir exemplarisch verschiedene physikalische Fragestellungen aus der Kinematik bearbeiten, z. B.: Wie schnell muss das Paket bewegt werden? Wie viele Umdrehungen muss die Antriebstrommel vom Paketband leisten, um die richtige Distanz bis zum Kran zurückzulegen? Wann muss der Kran nach unten greifen? Und so weiter.

Strobel: Für Elektrotechnik-Studierende läuft es am Ende auf die Frage hinaus, wie leistungsfähig ein elektrischer Motor sein muss, damit er die Aufgabe bewältigen kann und wie er gesteuert werden muss. Im Fach Computer Engineering geht es verstärkt um den Code zur Ansteuerung des Motors. Mit Hilfe von Simulationen in Moodle können die berechneten Werte auch direkt getestet werden. Im nächsten Schritt möchten wir das Transportband gerne physisch nachbauen, um auch reale Experimente damit durchführen zu können.

Warum haben Sie sich für diese Variante der Umsetzung entschieden?

Strobel: Es ging dabei um Anschlussfähigkeit. In Physik wird aktuell schon viel mit Moodleaufgaben gearbeitet. Jemand, der unsere Materialien nutzen möchte, muss also nicht sein ganzes Konzept über den Haufen werfen, sondern kann Bestehendes einfach und flexibel ergänzen. Zudem sind solche digitalen Materialien sehr nachhaltig. Sie können immer wieder genutzt und in der Komplexität auch noch weiter ausgebaut werden – beispielsweise mit schrägen Transportbändern, um bei der erwähnten Anwendung zu bleiben.

Wie findet der Transfer Ihres Projekts in die Hochschule hinein und nach außen statt?

Strobel: Wir organisieren jährlich einen Workshop für Lehrkräfte aus dem Physik-Bereich, wo wir über unsere Lehre sprechen, und sie weiterentwickeln. Dort stellen wir auch den jeweiligen Stand unseres Projekts und die Möglichkeiten, die es bietet, vor. Es ist außerdem eine Art Anleitung geplant, die erklärt, wie die Aufgaben didaktisch am besten in die Lehre eingebaut werden können. Auch unseren Interviewpartner*innen – also den Modulverantwortlichen – werden wir zurückspiegeln, was sich durch das Projekt verändert hat. 

Schäfer: Das Lernmaterial bietet außerdem das Potential, eine stärkere Vernetzung der Grundlagenmodule herzustellen – derzeit wird den Studierenden der passende Code zu ihren physikalischen Ergebnissen einfach bereitgestellt. Dieser könnte aber auch parallel in den Veranstaltungen des Moduls „Grundlagen der Programmierung“ erarbeitet werden. Und durch die wissenschaftliche Fundierung des Projekts wären auch Conference-Paper denkbar, um es über die HTW Berlin hinaus bekannt zu machen. 

Welche Chancen eröffnet Ihr Projekt für die Zukunft?

Strobel: Es ist ein erster Schritt in Richtung projektbasiertes Lernen und verleiht insbesondere der Grundlagenlehre mehr Realitätsnähe. Schließlich werden die physikalischen Probleme in der Praxis auch nicht isoliert betrachtet, sondern fügen sich in einen meist komplexen Gesamtkontext ein. Genau deshalb macht das für die Lehrinhalte Sinn und fördert nicht nur die Motivation der Studierenden, sondern auch die der Lehrenden.

* Wer sich ein detailliertes Bild von den Materialien verschaffen möchte, kann das Projektteam einfach ansprechen und sich den Musterkurs zeigen lassen.

Beratung für Lehrende

Sie haben auch tolle Ideen für die Lehre, aber wissen noch nicht, wie Sie das am besten umsetzen? Das Lehrenden-Service-Center berät Sie bei allen Fragen zu Lehre, Didaktik und Medienproduktion. Kontaktieren Sie uns einfach per Mail unter lehre@htw-berlin.de. Wir freuen uns auf Ihre Anfragen!

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