Mit Avataren gegen Übergewicht: das Projekt VitraS
Von der angewandten Forschung an der HTW Berlin ist es eigentlich ein weiter Weg zur griechischen Mythologie. Doch wenn es um Techniken der virtuellen und der erweiterten Realität geht, also um Virtual Reality und Augmented Reality, kann dieser Weg überraschend kurz sein. Im Forschungsprojekt „VitraS“ von Prof. Dr.-Ing. Habakuk Israel ist beispielsweise der Meeresgott Proteus im Spiel, genauer gesagt: die nach Proteus benannte Verhaltensänderung im Umgang mit Avataren. Den sogenannten Proteus-Effekt wollen sich Prof. Dr.-Ing. Israel und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Sebastian Keppler nämlich zunutze machen, um Menschen zu helfen, die krankhaft übergewichtig sind. Gefördert werden sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Adipositas muss immer öfter behandelt werden
Der medizinische Hintergrund des Projekts ist schnell erklärt: Jede_r fünfte Deutsche ist krankhaft übergewichtig, sprich: adipös, was nicht nur Gelenke und Wirbelsäule stark belastet, sondern auch das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, Herzinfarkte, Diabetes und verschiedene Krebsarten steigert und den Menschen psychisch zusetzt. Adipositas muss immer öfter therapeutisch behandelt werden, was auch die Forschung auf den Plan gerufen hat. Wissenschaftler_innen der Universität Würzburg setzen bei der Behandlung von Patient_innen auf die psychologische Wirkung von virtuellen Figuren, sogenannten Avataren. Das passte zur Expertise von Prof. Dr.-Ing. Israel, der sich als Informatiker auf die Interaktion von Mensch und Maschine spezialisiert und viel Erfahrung mit der Modellierung im dreidimensionalen Raum hat. Weshalb man seit Mai 2019 unter dem Dach des Projekts „Virtual-Reality-Therapie durch Stimulation modulierter Körperwahrnehmung“ (VitraS) kooperiert.
Der Proteus-Effekt überlistet das Gehirn
Während an der Universität Würzburg unter anderem mit großem technischen Know-how täuschend echte individuelle Avatare generiert werden, experimentieren Prof. Dr.-Ing. Israel und Sebastian Keppler, Absolvent des Studiengangs Angewandte Informatik, mit neuen VR-Technologien für den Einsatz der Avatare in der therapeutischen Behandlung. Dabei wollen sie sich den schon erwähnten Proteus-Effekt zunutze machen. „Das menschliche Gehirn“, erläutert Prof. Dr.-Ing. Israel, „akzeptiert den virtuellen Avatar als eigenen Körper“. Das heißt: Was Menschen in der virtuellen Realität wahrnehmen, beispielsweise Kleidung und Körperumfang, beziehen sie im Unterbewusstsein auf sich selbst und passen ihr Verhalten entsprechend an. Nach Proteus wurde der Effekt benannt, weil dieser in der Odyssee Homers als Meister der Verwandlung beschrieben wird, der jede beliebige Gestalt annehmen konnte.
Drei Interaktionstechniken im Experiment
Bei der Entwicklung der VR-Technologien konzentrieren sich Prof. Dr.-Ing. Israel und Sebastian Keppler unter anderem auf Menschen, die dank medizinischer Betreuung schon einige Pfunde losgeworden sind, aber noch immer das Körpergefühl adipöser Menschen haben und durch Rückfälle Gefahr laufen, den hart erarbeiteten therapeutischen Erfolg wieder zunichte zu machen. Drei verschiedene VR-Interaktionstechniken sind dafür an der HTW Berlin in Arbeit.
SelfSketch: die eigene Silhouette zeichnen
Da ist die Methode SelfSketch, deren Entwicklung schon am weitesten gediehen ist. Bei SelfSketch zeichnen Patient_innen die eigene Silhouette, besprechen sie mit dem Therapeuten, anschließend zeichnen sie erneut und vergleichen das erste mit dem zweiten Bild. Durch wiederholtes Zeichnen und Vergleichen, sagt Prof. Dr.-Ing. Israel, passe sich das gezeichnete Bild allmählich der Realität an, nähere sich das Körpergefühl dem echten Körper. Die Experimente mit der VR-Brille, dem digitalen Stift und den über Gurte an Handgelenken und Füßen befestigten Trackern macht Sebastian Keppler in seinem Büro. Manchmal muss von Hand nachjustiert werden wie unlängst, als die Seitenverhältnisse nicht passten und der Avatar reichlich gestaucht daherkam.
SelfTouch: den eigenen Körper berühren
Eine zweite Methode, mit der experimentiert wird, heißt SelfTouch. Dabei berühren Patient_innen den eigenen Körper insbesondere an den Stellen, die ihnen nicht gefallen. Auf dem virtuellen Avatar werden die Flächen in Farbe sichtbar und verdeutlichen dem Therapeuten die individuellen „Problemzonen“. Denn Studien zeigten, dass der bei der Berührung entstehende Eindruck einen Einfluss hat auf das eigene mentale Körperschema.
BodySwapping: sich mit fremden Augen sehen
Last but least: das BodySwapping. Diese Technologie würde sich speziell für die Gruppenarbeit eignen, sagen Prof. Dr.-Ing. Israel und Sebastian Keppler. Mehrere Patient_innen könnten sich gemeinsam in einen Raum begeben und sich dort mit den Augen einer jeweils anderen Person sehen. Der quasi-externe Eindruck verfügt über eine höhere Glaubwürdigkeit: So sehe ich tatsächlich aus.
Die klinische Erprobung steht bevor
Die an der HTW Berlin erzielten Ergebnisse werden kontinuierlich in das Projekt integriert. Demnächst steht die klinische Erprobung des Gesamtsystems an. Weil diese Tests mit echten Menschen realisiert werden, muss die Ethikkommission der Uni Würzburg dafür grünes Licht geben. Die virtuelle Unterstützung von Adipositas-Therapien könnte nicht nur in Pandemiezeiten von Vorteil sein, sondern auch auf dem Land, wo es oft an Therapeut_innen mangelt. Adipositas-Patient_innen wüssten sie noch aus einem anderen Grund zu schätzen, weiß Prof. Dr.-Ing. Israel: Nicht selten meiden sie öffentliche Verkehrsmittel, um in die therapeutisch besser versorgten Zentren zu kommen.