Lastenrad statt Lkw: so kommt Ware an ihr Ziel
Alltag bei einem Logistikdienstleister: 8.30 Uhr am Morgen, die Fahrer*innen treffen ein, ihre jeweilige Tagestour haben sie vorab per Mail bekommen. Sie öffnen die Tourenplanung in der App, laden die passenden Pakete und Päckchen auf die Fahrzeuge und machen sich auf den Lieferweg. Wirklich Alltag? Nicht ganz, denn der Fuhrpark besteht nicht aus Lkw oder Vans, sondern aus elektronisch angetriebenen Lastenrädern. Und die Zustellung der Ware an die Kundschaft ist Teil eines von Wissenschaftler*innen realitätsnah konzipierten Feldversuchs. Doch Alltag könnte das Szenario werden, wenn das Team um Prof. Dr. Birte Malzahn und Prof. Dr. Stephan Seeck von der HTW Berlin sowie Prof. Dr. Christian Butz von der Berliner Hochschule für Technik (BHT) zu erfolgversprechenden Erkenntnissen kommt. Ihr gemeinsames Forschungsprojekt „WAS-PAST“ wird vom Berliner Institut für Angewandte Forschung Berlin (IFAF Berlin) gefördert.
Innerstädtische Warenströme sind längst ein Problem
Geforscht und im Feldversuch praktisch getestet wird, weil es noch immer an tragfähigen Konzepten für die umweltfreundliche Zustellung von Paketen und Päckchen an Endverbraucher*innen und Unternehmen im urbanen Raum mangelt. Dabei sind die innerstädtischen Warenströme längst zu einem unübersehbaren Problem geworden. Dem stetig wachsenden Lieferaufkommen an immer zahlreichere und anspruchsvollere Empfänger*innen auf der einen Seite stehen bereits heute stark überlastete Straßen und Parkmöglichkeiten gegenüber, deren Kapazitäten zugunsten von Radwegen sowie aufgrund von politischen Vorgaben weiter schrumpfen werden. Wie könnten umwelt- und stadtverträgliche Alternativen für die Lieferkette vom Rand der Stadt in das Zentrum aussehen?
Sechs Monate wird realitätsnah getestet
Diese Frage hat das Team des Projekts WAS-PAST – das Akronym steht für Warenströme in Städten – Pakete und Stückgut – zahlreichen Verantwortlichen in Politik, Handel und in der Logistikbranche gestellt. Aus den sorgfältig ausgewerteten Antworten ist folgendes Modell entstanden: Die Waren werden von Lagern am Stadtrand zu einem verkehrsgünstig und zentral gelegenen Makro-Hub geliefert. Von dort geht es mit E-Cargo-Bikes wahlweise direkt zu den Filialen der Kunden; oder es erfolgt ein Weitertransport zu Mikro-Hubs, von denen aus dann die Belieferung der Kunden erfolgt, stets unter Berücksichtigung der strengen Liefervorgaben. Ob dieses Zustellkonzept funktioniert und, fast noch wichtiger, ob es auch wirtschaftlich ist, wird sechs Monate lang realitätsnah getestet - mit Planungssoftware, Paketen und Stückgut sowie Fahrzeugen und Fahrern (tatsächlich alles Männer), und dann bis März 2023 ausgewertet.
Makro-Hub auf dem Gelände der BEHALA
„Die Organisation dieses Feldversuchs war nicht einfach, doch inzwischen haben wir Kisten, Fahrzeuge und Daten, nach denen wir fahren“, freut sich die Wirtschaftsinformatikerin Prof. Dr. Malzahn. Herzstück ist ein Makro-Hub auf dem Gelände der Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft (BEHALA), die am Westhafen ein Güterverkehrszentrum betreibt und als assoziierter Partner firmiert. Projektpartner sind außerdem eine große Einzelhandelskette und der Internethändler Ebay. Ein Mikro-Hub befindet sich am Tempelhofer Damm, ein weiterer wird am Alexanderplatz geplant.
Lastenradfahrer müssen den Überblick behalten
Robert Teschendorf macht als wissenschaftlicher Mitarbeiter die tägliche Tourenplanung im Makro-Hub, bei dem es sich um einen Container auf dem BEHALA-Gelände handelt. Dort stehen auch die Lastenräder der beiden Projektpartner Cycle Logistics und CITKAR. Wo genau die fünf Fahrer, allesamt studentische Hilfskräfte, mit der Ware Tag für Tag unterwegs sind, kann Teschendorf online auf dem Bildschirm verfolgen. Besonders sportlich müssen sie dank des Elektromotors übrigens nicht sein. Die Herausforderungen sind anderer Natur. Auf dem Lastenfahrrad ist es alles andere als einfach, sich im Berliner Verkehr zu behaupten. Da sind Erfahrung und Überblick gefragt. Besonders schwer tun sich Lastenräder auf dem stark frequentierten Areal des Hauptbahnhofs. Überhaupt fehle ein speziell zugeschnittenes Navigationssystem, konstatiert Teschendorf. Während sich „normale“ Radfahrer*innen über den Routenvorschlag durch einen Park freuen, kann derselbe Weg für schwer beladene Lastenräder zum technischen Risiko werden kann. Sein Rat an die Fahrer: „Lernt die Wege!“.
Zeit ist ein Faktor für die Wirtschaftlichkeit
Denn der Faktor Zeit zählt. Auch eine emissionsarme und stadtverträgliche Zustellung muss schließlich wirtschaftlich sein. „Mehr bezahlen will kaum jemand“, gibt sich Prof. Dr. Malzahn keinen Illusionen hin. Und kein Unternehmen stelle sein Liefersystem um, ohne vorher zu wissen, was das ökonomisch bedeutet und ob es sinnvoll ist. Deshalb wertet Robert Teschendorf im Feldversuch die Daten kontinuierlich aus; er bewertet die „Performance“, wie er es nennt. Wieviel Ware ist an Bord, wie viele Minuten werden pro Stopp und Zustellung benötigt, wie lange dauert die gesamte Tour? Auch die Ladezeit für die Batterien wird einkalkuliert. „Wir erfassen alle Parameter, sodass wir die verschiedenen Systeme am Ende vergleichen können und wissen, an welchen Stellschrauben man noch drehen kann“, sagt Prof. Dr. Malzahn. Die Logistikberatung 4flow AG, ein weiterer Projektpartner, wird die Auswertung der Daten unterstützen.
Das Weihnachtsgeschäft als Herausforderung
Damit genügend Daten für die Auswertung vorliegen, nimmt das Projektteam auch das Weihnachtsgeschäft mit, sicher noch einmal eine Herausforderung für alle Beteiligten. Doch keine Bange: Geschenke werden auch im Fall einer „schlechten“ Performance nicht auf der Strecke bleiben. Denn die WAS-PAST-Fahrer transportieren zwar Pakete, doch darin befinden sich – Steine. Klingt kurios, ist aber wahr. Weil es für die Logistikpartner ein zu großer Aufwand gewesen wäre, ihre Prozesse für den sechsmonatigen Feldversuch umzustellen, von Haftungsfragen ganz zu schweigen, entschieden die Wissenschaftler*innen, die Pakete mit Steinen statt echter Ware zu befüllen. Die Dummies muss natürlich kein Einzelhändler und kein Kunde annehmen und womöglich sogar entsorgen. Stattdessen wird die Übergabe am Ziel fotografisch dokumentiert, das Paket anschließend wieder mitgenommen. Es würde nicht wundern, wenn sich die Fahrer dabei ein wenig fühlen wie der legendäre Sisyphus…
Feldversuch "nur" mit Dummies
Auch das Projektteam empfand die Stein-in-Paket-Lösung zunächst als Kompromiss, räumt Prof. Dr. Malzahn ein. Doch die anfängliche Enttäuschung ist längst der Gewissheit gewichen, dass die realitätsgetreue Abbildung mit Dummies die bessere Lösung für die beteiligten Unternehmen ist. Sie mussten nur Daten übergeben und konnten risikoarm testen, wie ihre Prozesse in einem emissionsarmen Logistikkonstrukt ablaufen würden.
In der Branche hat das Umdenken schon begonnen
Die Wissenschaftler*innen wiederum lernen die Effizienz des von ihnen ersonnenen Konzepts kennen. „Selbst wenn man es nicht zu 100 Prozent umsetzen kann, werden wir wissen, welche Schritte zu einer umweltfreundlichen und stadtverträglichen Lieferung führen“, ist Prof. Dr. Malzahn zuversichtlich. Dass es in diese Richtung gehen muss, sei auch dem Handel und den Logistikdienstleitern längst klar. In der Branche habe ein Umdenken begonnen, das durch die Pandemie und die gegenwärtige Energiekrise noch einmal verstärkt wurde. Kein Wunder, dass auch der Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste e.V., ein Zusammenschluss von Arbeitgebern der Kurier-Express-Paket-Dienste und Postdienstleister, beratend an dem Projekt beteiligt ist.
Offene Türen bei der Senatsverwaltung
Bei der Berliner Senatsverwaltung, hat Robert Teschendorf die Erfahrung gemacht, laufe man mit dem Thema „Umweltverträgliche Zustellung“ ohnedies offene Türen ein. Deshalb will er die im Feldversuch gefahrenen Wege visualisieren und in Gestalt einer Karte übergeben, die aufzeigt, wo gute und schlechte Bedingungen für den Lieferverkehr mit Lastenrädern herrschen. Denn, wie überall, werden auch hier Entscheidungen am besten auf Basis von Daten getroffen.