Investitionen in unsere Infrastruktur sind überfällig
Nicht nur sauberes Wasser, nachhaltiger Konsum, menschenwürdige Arbeit und Maßnahmen für den Klimaschutz stehen auf der Liste der 17 Ziele für eine Nachhaltige Entwicklung, die sich die Weltgemeinschaft mit der Agenda 2030 gesetzt hat. Auch die Bereiche Industrie, Innovation und Infrastruktur kommen dort vor. Vereint sind sie unter dem Ziel Nr. 9. Worauf es dabei in den nächsten Jahren ankommt, führt Prof. Dr. Sebastian Dullien im Interview aus. Der Volkswirt ist Professor im Master-Studiengang International and Development Economics an der HTW Berlin und seit 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine lassen das SDG 9 in völlig neuem Licht erscheinen, nicht wahr?
Prof. Dr. Sebastian Dullien: Einerseits stimmt das. Andererseits sind die Social Development Goals sehr breit angelegt, um sowohl Industrieländer als auch Schwellen- und Entwicklungsländer abzubilden. In den Industrieländern lag der Fokus bis dato tatsächlich auf einer hochwertigen und nachhaltigen Infrastruktur. In den Schwellen- und Entwicklungsländern ging es hingegen angesichts von wiederkehrenden Naturkatastrophen immer schon auch um eine widerstandsfähige Infrastruktur. Diese Erkenntnis erreicht nun auch den reicheren Teil der Welt, der die schmerzliche Erfahrung macht, dass wirtschaftliche Abhängigkeit als Waffe eingesetzt werden kann. Unsere Gasversorgung beispielsweise war hochwertig, aber eben nicht hinreichend resilient. Und das gilt nicht nur für die öffentliche Infrastruktur. Auch Unternehmen haben diesen Aspekt oft vernachlässigt. Sie haben stärker daraufgesetzt, Effizienzgewinne zu heben, was nicht selten zu Lasten der Nachhaltigkeit und der Resilienz ging.
Wo sehen Sie derzeit den größten Handlungsbedarf?
In Deutschland sehe ich den größten Handlungsbedarf bei der Infrastruktur, zuvorderst bei den Transportwegen auf Schiene und Wasser, aber auch bei den Energienetzen. Wir haben am IMK 2019 eine Studie gemeinsam mit dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft verfasst, im dem wir den Investitionsbedarf auf 460 Milliarden Euro über die kommenden 10 Jahre geschätzt haben. Diese Zahl war konservativ angesetzt und beschreibt sicher eher eine Untergrenze. Unser Gutachten hat damals für eine Debatte gesorgt, inzwischen ist es ein Referenzpunkt geworden und es besteht Konsens, dass deutlich mehr investiert werden muss. Die Botschaft ist auch in der Politik angekommen, und der Ukrainekrieg hat die Notwendigkeit von Resilienz noch einmal stärker unterstrichen.
Wie lässt sich unsere Infrastruktur widerstandsfähiger gestalten?
Auf verschiedene Art und Weise. Es gilt, Redundanzen zu schaffen und nicht alles auf Kante zu nähen. Unsere Infrastruktur darf nicht gleich zusammenbrechen, wenn es ein Problem gibt. Ein schlichtes Beispiel: Die Bahn kann bei 100 Zügen nicht mit 100 Loks und 100 Lokführer*innen planen, denn sie muss technische Ausfälle und Krankheitsfälle mitdenken. Widerstandsfähige Infrastruktur heißt auch: Es bedarf vorsorgender Wartung. Und wir müssen auf einen gewissen Grad an Dezentralisierung setzen. Wenn alles zentral organisiert ist, kommt es schneller zu Totalausfällen. Das gilt gerade für den Bereich der Energie. Nicht minder wichtig: Wir müssen bei der Wahl der Technologien deren Produktionsort im Blick haben. Bei digitalen Netzen sollten wir uns bspw. nicht auf Technik verlassen, die in „nicht freundlichen Ländern“ hergestellt wird. Wir sollten stattdessen primär auf europäische Produkte setzen. Vielen ist noch nicht klar, dass wir in einem neuen Zeitalter geopolitischer Konflikte leben, und wir uns nicht verwundbar machen dürfen. Die Bewertung von „politischer Freundlichkeit“ kann sich zwar immer wieder ändern, das gebe ich zu. Aber das Risiko, dass aus Norwegen oder Frankreich „Schurkenstaaten“ werden, ist kalkulierbar.
Welche Maßnahmen befördern überhaupt eine nachhaltige Industrialisierung?
Nachhaltigkeit hat zwei Dimensionen. Die erste: Wie schaffe ich es, dass die Industrie im Land bleibt? Und die zweite: Wie wirtschaften wir ökologisch? Für beide Dimensionen benötigt man industriepolitische Instrumente. Man muss Standards für Produkte und Produktionsweisen setzen. Ein Beispiel wäre etwa eine gesetzliche Vorgabe, dass Autos in der EU ab 2030 nur noch verkauft werden dürfen, wenn sie aus „grünem Stahl“ gebaut sind. Die Europäische Union kann solche Standards setzen. Wenn sie dies tut, entsteht die Industrie, die nach diesen Standards produziert. Das geht zwar zu Lasten von anderen Unternehmen, die es nicht tun, doch das halte ich mit Blick auf das Ziel „Nachhaltigkeit“ für legitim. Sodann muss man klassische Industriepolitik zur Förderung von nachhaltiger Produktion betreiben. Die Herstellung von Batterien ist ein gutes Beispiel. Zu guter Letzt kann die öffentliche Beschaffung eine Rolle spielen: Die öffentliche Hand sollte verstärkt Produkte beschaffen, die in der EU hergestellt werden, damit zumindest die Fähigkeit zur Produktion strategischer Güter bestehen bleibt. Europa wäre der richtige Referenzrahmen für eine solche Politik.
Welche Rolle spielt dabei die Wissenschaft?
Die Wissenschaft ist unverzichtbar, denn Fortschritt ist ohne Wissenschaft nicht vorstellbar. Ihr kommen drei Aufgaben zu: Sie muss technische Lösungen entwickeln und weiterbringen. Sie muss systemische Ansätze konzipieren und aufzeigen. Und sie muss sich drittens um die Untersuchung und Bewertung des Fortschritts kümmern. Die HTW Berlin und die hier praktizierte Forschung liefert für alle drei Bereiche gute Beispiele.
Nehmen Sie seit der Verabschiedung der Agenda 2030 einen Wandel hin zu einem nachhaltigeren Leben und Wirtschaften wahr, speziell auf dem Weg zum Ziel Nr. 9?
Ja, diesen Wandel nehme ich wahr. Das Bewusstsein für die Problematik hat sich wirklich geändert. Wenige Monate nach der Verabschiedung der SDG fand die Pariser Klimakonferenz statt. Es gab eine Reihe von Klimaschutzgesetzen, die sicher nicht weit genug gegangen sind, aber dennoch einen Quantensprung im Vergleich zu den Vorjahren darstellten. Auf europäischer Ebene möchte ich den Plan für den grünen Wandel anführen, bekannt unter dem Titel „Fit für 55“. In den USA hat Joe Biden zum ersten Mal überhaupt ein großes Paket zum Klimaschutz durch den Kongress bekommen. Versetzt man sich in die Zeit vor 2015 zurück: Es ist also viel passiert. Doch wir müssen zweifelsohne nachlegen und weitere Anstrengungen unternehmen.
Was wünschen Sie sich persönlich?
Ich wünsche mir, dass diese und die nächsten deutschen Regierungen andere Prioritäten setzen und der Infrastruktur größere Aufmerksamkeit widmen. Und ich wünsche mir, dass die politischen Akteur*innen dabei rationaler mit dem Thema „Schuldenbremse“ umgehen. Bei der Schuldenbremse wird gerne Nachhaltigkeit ins Feld geführt. Doch wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass unser Handeln viele, noch wichtigere Dimensionen von Nachhaltigkeit verletzt. Da muss die Einhaltung der Schuldenbremse eben mal zurückstehen.