Ein Ökosystem aus allen Gesundheits-Apps bauen
Den ersten Erfolg konnten Prof. Dr. Jan Wirsam (FB 3) und sein wissenschaftlicher Partner, Prof. Dr. Ingo Timm von der Uni Trier, schon verbuchen: Sie durften ihr Projekt „Tagging Triggers“ bei der Digital Medicine Week im Februar 2021 vorstellen – was nur vier von 1.400 Einreichern gelungen war. „Mit dieser Präsentation vor einer kleinen, aber feinen Öffentlichkeit, zu der auch Vertreter_innen von Bundesministerien und Politiker_innen gehörten, verließen wir zum ersten Mal unser Brain-Storming Labor, erinnert sich Prof. Dr. Wirsam, Professor für Innovationsmanagement im FB 3 der HTW Berlin, der zu innovativen digitalen Gesundheits- und Ernährungssystemen forscht. Es war der erste Schritt auf dem Weg zu einem Projekt, das die Vokabel „visionär“ verdient hat. Denn das Gelingen könnte die Lebensqualität von vielen Menschen verbessern.
Digitale Gesundheitsanwendungen und Health Apps
Worum geht es? Wer sich mit dem Projekt „Tagging Triggers“ beschäftigt, taucht ein in die Welt der Health Apps und Digitalen Gesundheits-Anwendungen, kurz DiGA. Letztere werden von Ärzt_innen und Psychotherapeut_innen verordnet und von Krankenkassen bezahlt, um Krankheiten auf die Spur zu kommen sowie Patient_innen bei der individuellen Behandlung zu helfen. Rehappy unterstützt beispielsweise die Nachsorge von Schlaganfallpatient_innen, Elevida wurde konzipiert für Menschen mit Multipler Sklerose, mit CANKADO PRO-React Onco erfassen Brustkrebspatient_innen ihre Beschwerden, ESYSTA erleichtert Diabetiker_innen das Führen eines Tagebuchs durch den automatischen Datenimport aus Blutzuckermessgeräten und Insulinpens. Aber auch Smart Watches, die Schritte zählen, den Puls messen und das Schlafverhalten aufzeichnen, gehören in das weite Feld der Health Apps.
Eine ganzheitliche Betrachtung fehlt bis dato
All diese Gesundheits-Apps sind zwar hilfreich, sagt Prof. Dr. Wirsam. Doch jede App speichert nur einzelne Faktoren ab. Erdacht von Entwickler_innen mit finanziellen Zielen, ist keine ganzheitliche Betrachtung möglich, die aber für Patient_innen von vitalem Interesse wäre. Bei „Tagging Triggers“ soll das anders sein. „Rethink Health-App Economy“ lautete nicht von ungefähr die vielversprechende Ankündigung beim Pitch auf der Digital Medicine Week.
Eine Plattform soll alle Daten zusammenführen
Angedacht ist eine nicht kommerzielle Plattform, auf der Daten aus den bestehenden Apps zusammengeführt werden – Prof. Dr. Wirsam nennt die Plattform ein Ökosystem. Per Klick könnten gesundheitsaffine Menschen Informationen und Daten ihrer Wahl zur Verfügung stellen, die sie im Alltag ohnedies tracken: Fitnessdaten, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Migräne etc. Kombiniert würden sie auf der Plattform mit allgemein verfügbaren Faktoren wie Wetter, Luftdruck, Mondzyklus und dergleichen. Durch die Kombination der Faktoren ließen sich Zusammenhänge erkennen, die vorher nicht wahrgenommen wurden. Auch ein Austausch von Betroffenen wäre möglich.
Grundlage für wissenschaftliche Arbeit
Für Ärzt_innen wäre die Plattform eine Grundlage für die wissenschaftliche Arbeit, gewissermaßen eine fortlaufende medizinische Studie durch die sinnvolle Verarbeitung von Daten, die viele Menschen ohnedies täglich erfassen, mit dem Mehrwert, dass sie von deren Weiterverarbeitung nunmehr profitieren würden. Voraussetzung für diesen diagnostischen Erkenntnisgewinn ist freilich, dass sich zu dem bis dato kleinen Team weitere Wissenschaftler_innen mit passender Expertise hinzugesellen, insbesondere Mediziner_innen.
Datenschutz ist oberstes Gebot
Der Projektpart von Prof. Dr. Wirsam ist es zum einen, die Architektur der Plattform zu entwickeln. Dass sie nicht kommerziell sein darf sowie von Google und Apple unabhängig sein muss, steht für ihn bereits fest. Wichtig sei auch, dass Interessierte ihre Informationen per Klick als Datenspende zur Verfügung stellen, also unter Wahrung der Datenschutzgrundverordnung. Anders lässt sich kein Vertrauen herstellen, ist der Wissenschaftler fest überzeugt.
Unterstützung durch den Health Innovation Hub
Außerdem kümmert sich Prof. Dr. Wirsam um die strategische Vernetzung mit relevanten Stakeholdern in Gesundheit und Politik: "Schlüsselakteure" und "Enabler" heißen sie in der Projektskizze. Der überzeugende Pitch auf der Digital Medicine Week hat dem Team bereits die Unterstützung durch den Health Innovation Hub eingetragen, einer Art interdisziplinären Experten-Think-Tank und Sparring Partner für das Bundesministerium für Gesundheit mit Fokus auf das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Krankenkassen könnten ein Interesse haben
Das ist eine gute Grundlage für die nun anstehende Kontaktaufnahme mit den Playern in der Gesundheitsbranche, allen voran den Krankenkassen. Sie könnten deshalb Interesse am Projekt „Tagging Triggers“ haben, weil die Plattform einen Beitrag zu der von allen Beteiligten gewünschten Digitalisierung leisten kann und sogar die Verknüpfung mit der Elektronischen Patientenakte zulässt. Prof. Dr. Wirsam setzt dabei auf den Wettbewerb: Für Patient_innen könnten digitale Mehrwerte mittelfristig ein wichtiger Grund sein, sich für eine bestimmte Kasse entscheiden, so seine Überlegung.
Auch politisch muss das Projekt gewollt sein
Aber auch politisch müsse das Projekt gewollt sein, wobei die Netzwerkarbeit durch die Bundestagswahlen im September erschwert wurden. Dass sie einen langen Atem benötigen, ist den Wissenschaftlern ohnedies klar. Es gilt, an beiden Hochschulen Drittmittel einzuwerben, sodass im nächsten Schritt die konzeptionellen Vorarbeiten möglich werden. Wie könnte ein nachhhaltiges Betreiberkonzept für die Plattform aussehen? Welche Startups könnte man einbinden und welche Kolleg_innen aus der Wissenschaft könnte man ansprechen? Auf der Agenda stehen auch Workshops und Showcases, Machbarkeitsstudien und Hackathons und natürlich die Akquise von Patient_innen.
Der Weg wird weit sein
Die zahlreichen Meilensteine auf dem vermutlich weiten Weg schreckt weder Prof. Dr. Wirsam ab, dessen wissenschaftliche Leidenschaft dem Innovationsmanagement gilt, noch den Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr. Ingo Timm. Der Beginn der gemeinsamen Projektidee begann im Rahmen eines Workshops in der Mensa der Uni Trier. „Tagging Triggers“ haben die beiden das Projekt übrigens genannt, weil es dazu beitragen soll, jene Reize und Ereignisse besser zu identifizieren, die bei Menschen Schmerzen oder Unwohlsein auslösen können. Man kann dem Projekt nur Erfolg wünschen.