Digitale Präsentation statt realer Exkursion
Sie hätten sich das Kunstlabor in der Schlesischen Straße 27 in Berlin-Kreuzberg gerne mit eigenen Augen angeschaut: die HTW-Studierenden im AWE-Fach „Komfort durch Genügsamkeit“. Stattdessen richten sich alle Augen auf den eigenen Bildschirm, wo die beiden Dozierenden Lars-Arvid Brischke und Margarete Over gerade den Referentinnen der „S27“, wie das Kunst- und Kulturhaus heißt, den Zugang zum digitalen Seminarraum gewähren. Vera und Sabeth vom „S27“ haben noch Probleme mit dem Ton, für Minuten sind nur Wortfetzen zu verstehen, dann können sie mit ihrer Präsentation loslegen.
Lehre in Zeiten von Corona
Hochschullehre in Zeiten von Corona. Einerseits ist es faszinierend, dass sich Dozent_innen aus Heidelberg, Berliner Referentinnen und ein gutes Dutzend Studierende, die wo auch immer an ihren Endgeräten sitzen, über partizipative Projekte im Bereich Stadtentwicklung, Bildung und Wohnen austauschen können, trotz Kontaktverbot und ohne dafür einen einzigen Kilometer zurücklegen zu müssen.
Rein in die Breakout-Session und wieder raus
Andererseits ist die digitale Lehre richtig anstrengend, für Lehrende genauso wie für Studierende. Über Stunden spielt sich alles auf 35 Zoll ab, hört man viele Stimmen, sieht aber wenige Gesichter, und lernt niemanden persönlich kennen. Rein in die Breakout-Session, wo kleine Gruppen über verschiedene Themen diskutieren, raus aus der Breakout-Session, um die erarbeiteten Inhalte in großer Runde zusammenzutragen. Rein in die nächste Breakout-Session und dann wieder raus. Jedes Mal ein neuer Echotest, jedes Mal das Mikrofon und die Webcam deaktivieren, damit nicht zu viele Daten übertragen werden müssen, weil letzteres die Qualität der Akkustik beeinträchtigen könnte.
Mit Fragen und Beiträgen durch drei Stunden
Margarete Over und Lars-Arvid Brischke lotsen mit Fragen und Beiträgen durch die Veranstaltung, behalten sowohl den Chat als auch die Tagesordnung im Auge, ernennen Studierende zu Präsentator_innen und machen sie danach wieder zu Teilnehmer_innen, helfen bei technischen Problemen und schalten ein Mikrofon kurzerhand stumm, weil im Hintergrund offenbar an einem Möbelstück gezimmert wird. Zwischendurch gewähren sie eine 15minütige Pause.
Die beiden Vertreter_innen des Instituts für Energie und Umweltforschung (ifeu) hatten eigentlich ein etwas anderes Konzept für ihr AWE-Modul im Sommersemester. Ausgehend von einem in Heidelberg derzeit entstehenden selbstverwalteten Studierenden- und Auszubildendenwohnheim sollten sich die HTW-Studierenden mit der Suffizienz- und Nachhaltigkeitsforschung vertraut machen, danach wollte man bei Exkursionen verschiedene Berliner Praxisprojekte in Augenschein nehmen, um schließlich gemeinsam Module für ein Bildungskonzept zu erarbeiten, das zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung anregen soll.
So viel wie möglich digital, auch die Exkursionen
Soviel wie möglich von ihrem Konzept setzen Over und Brischke jetzt digital um. „Wir haben uns ein abwechslungsreiches Programm überlegt, in dem auch die geplanten Exkursionen zu Praxisprojekten einen an die aktuellen Bedingungen angepassten guten Platz erhalten werden“, schrieben sie den HTW-Studierenden in einer freundlich-einladenden Mail zu Beginn des Semesters.
Die Teilnehmer_innen waren und sind froh darüber, nur so kann ihr Studium weitergehen. Doch sie sehen auch die Defizite der digitalen Lehre: die fehlenden sozialen Kontakte, die technische Unzugänglichkeit von lizenzierten Programmen, und speziell im Fall des AWE-Moduls „Komfort durch Genügsamkeit“ die Unmöglichkeit, sich auf einer Exkursion ein eigenes Bild zu machen. „Auch wenn keiner etwas vor uns verbergen will, verlasse ich mich ungern auf den gelenkten Blick einer digitalen Präsentation, sondern erlebe Orte und Räume lieber selbst“, sagt Uwe aus dem Studiengang Angewandte Informatik.
Ergebnisse und Erkenntnisse für die Praxis
Die Erkenntnisse und Ergebnisse, die Studierende und Dozierende im Sommersemester gemeinsam gewinnen und erarbeiten, werden später in das Bildungskonzept des in diesen Monaten in Heidelberg entstehenden Wohnheims Collegium Academicum einfließen. Das AWE-Modul „Komfort durch Genügsamkeit“ ist ein Beispiel für das bemerkenswert breite Verständnis von Transfer an der HTW Berlin. Zu Transfer können größere und kleinere Forschungsprojekte genauso gehören wie Abschlussarbeiten, aber auch eine Gründungsidee, ein AWE-Kurs oder ein Studien-Projekt.