„Aus diesem Grunde habe ich mich gedrückt“
Das hundert Jahre alte Bekenntnis des Emil Rathenau
Wie klang die Stimme von Emil Rathenau? Der AEG-Gründer ist seit mehr als 100 Jahren tot. Seine Stimme aber hat die Zeit überdauert. Stephan Puille, Laboringenieur im Studiengang Konservierung und Restaurierung/Grabungstechnik der HTW Berlin, und sein Team haben den Tonträger restauriert.
Wenn abends in Berlin die Straßenbeleuchtung anspringt, dann ist das für die allermeisten selbstverständlich. Schließlich kennen wir es nicht anders. Doch es gab eine Zeit, da war das Selbstverständliche vollkommen neu und nichts Geringeres als eine technische Revolution.
Zwei bedeutende Männer des 19. Jahrhunderts sind verantwortlich dafür, dass es hell wurde in und um Berlin. Der eine, der Amerikaner Thomas Alva Edison, hat die elektrische Glühlampe erfunden. Der andere, der Maschinenbauingenieur Emil Rathenau, hat das Potenzial dieser Erfindung sofort erkannt. Fasziniert von den Möglichkeiten, die Elektrizität für Maschinen und Beleuchtungskörper bedeutet, erwarb die von ihm geleitete Gesellschaft 1883 die Nutzungsrechte für Edisons Patente. Sie lieferten das geistige Kapital für eines der erfolgreichsten Startups jener Zeit — der Allgemeinen Electricitäts-Gesellschaft (AEG). Leuchtmittel, Elektromotoren, Automobile, Akkumulatoren und Kabel wurden zu Verkaufsschlagern.
Sie haben den Alltag und die Arbeit der Deutschen radikal verändert. Hergestellt wurden sie von tausenden Arbeitern ab 1890 auch in Schöneweide, das bald als „Elektropolis“ galt. Der Erfinder aus Amerika und der Unternehmer aus Berlin tauschten sich auch über wissenschaftliche und gesellschaftliche Fragen aus. Per Brief und Telegramm blieben sie zeitlebens in Verbindung.
Stephan Puille hat all das vor Augen, wenn abends am Campus Wilhelminenhof in Schöneweide die Lichter angehen. Der Restaurator für archäologisches Kulturgut ist nicht nur bestens vertraut mit der Technikgeschichte jener Zeit — er ist den beiden Persönlichkeiten außerdem über sein Hobby unerwartet nahe gekommen.
Schuld daran ist seine Leidenschaft für alte Tonträger und Aufnahmegeräte. Schellackplatten, Walzen, Grammophone und Phonographen haben es ihm seit der Schulzeit angetan. „Stimmen, Musik oder auch nur Geräusche aus der Zeit um 1900 zu hören, finde ich unglaublich faszinierend“, bekennt der gebürtige Oberbayer. Und deshalb reist er seit vielen Jahren immer wieder auch privat in die Schatzkammern der Geschichte, etwa für ein Forschungsprojekt nach München ins Deutsche Museum.
„Wir haben dort im Museumsdepot eine Kiste mit Phonographenwalzen gefunden, die als verschollen galten“, erinnert sich Stephan Puille mit glänzenden Augen. „Ich wusste aufgrund von handbeschrifteten Papierstreifen, die um einige Walzen gewickelt waren, sofort, was es war: Edison hatte im Dezember 1890 Tonaufnahmen anfertigen lassen, um sie zusammen mit einem Phonographen als Geschenk an Emil Rathenaus Frau Mathilde zu schicken.“ Eine Truhe mit Gold hätte nicht aufregender sein können für den Laboringenieur, der sich selbst als Tonarchäologe bezeichnet. Akribisch ging Stephan Puille an die Arbeit und recherchierte in seiner Freizeit die Geschichte des unerwarteten Fundes.
„Wo bleibt der Phonograph für den Kaiser?“
„Edison hatte ursprünglich den Auftrag, einen solchen Phonographen an den deutschen Kaiser, Wilhelm II., zu schicken. Dieser wartete ungeduldig auf die unerhörte Erfindung aus Amerika. Die Bitte des Kaisers nahm Edison allerdings nicht sehr ernst. Erst ein mahnendes Telegramm seines befreundeten deutschen Erfinderkollegen Werner von Siemens und die Einsicht, dass ein enttäuschter Kaiser sein Deutschlandgeschäft ruinieren könnte, führten dazu, dass Edison aktiv wurde: Er ließ ein Studio einrichten und engagierte den ersten Toningenieur der Welt samt amerikanischen Bands, damit der Kaiser Musik hören konnte. Zusammen mit dem Kaiser-Apparat ging dann auch der Phonograph für Mathilde Rathenau samt Walzen per Schiff zum Jahreswechsel 1890 auf die Reise ins damalige Deutsche Reich“, erzählt Stephan Puille amüsiert.
Die Rathenaus benutzten den Phonographen mehrere Jahre. Das geht aus einer der Aufnahmen hervor, die im Deutschen Museum gefunden wurden und auf denen sich der Unternehmer Emil Rathenau als Sprecher zu erkennen gibt. Die gesprochenen Worte auf der vom deutschen Audio-Historiker Norman Bruderhofer digitalisierten Walze zu entziffern, war auch für die geübten Ohren von Stephan Puille nicht leicht. 115 Jahre und viele Generationen von Tontechnik trennten Sprecher und Hörer: „Vieles war schwer zu verstehen, zum Beispiel das Datum. An zwei Stellen fehlen einige Worte, weil die Walze aus wachsähnlicher Masse dort beschädigt wurde“, so Puille. Doch die zwei Wochen intensiver Arbeit nach Feierabend haben sich gelohnt.
Botschaft an die ungeborenen Enkel – dank eines verpassten Zuges
„Heute Mittag, um 1 Uhr ist Walther (Emil Rathenaus Sohn, der spätere Außenminister der Weimarer Republik, Anm. der Autorin) mit dem Zuge vom Lehrter Bahnhof nach Kiel abgereist“. Mit diesem Satz beginnt die vier Minuten lange Aufnahme, in der Rathenau Erinnerungen, Alltagserfahrungen Tagesgeschäfte und eine Zukunftsvision formuliert.
Darin berichtet er, dass er am Tag der Aufnahme seinen Zug verpasst hat, der ihn zu einer Vorstandssitzung hätte bringen sollen. „Daher habe ich mich gedrückt“, gesteht der Unternehmer neun Jahre nachdem seine Frau den Apparat samt handschriftlichem Widmungsschild von Edison geschenkt bekommen hat seinen Enkeln. Denn für diese ist die Aufnahme gedacht: „Und zwar haben wir beschlossen, dass jeder von uns hineinsprechen sollte, damit wir später nach vielen Jahren den Kindern von Walther, Erich und Edith einmal das Vergnügen machen zu zeigen, wie ihre Großeltern gesprochen haben.“
“Ein absoluter Glücksfall”
Ob die Enkel ihren berühmten Großvater tatsächlich gehört haben? Nach dem Tod von Mathilde Rathenau im Jahr 1926 übergab ihre Tochter Edith diese Aufnahme zusammen mit anderen und dem Edison‘ schen Apparat an das Deutsche Museum in München. „Dass das Museum diesen Teil des Nachlasses bekommen sollte, hatte Edith Mathildes Tagebuchaufzeichnungen entnommen“, erklärt Stephan Puille.
Für ihn ist es ein absoluter Glücksfall, dass die Stimme Emil Rathenaus 117 Jahre überdauert hat. „Mir ist kein anderes Tondokument eines namhaften deutschen Industriellen aus dieser Zeit bekannt.“ Der Restaurator wünscht sich sehr, dass diese bedeutenden akustischen Zeugnisse deutscher Geschichte und Technikgeschichte die Wertschätzung erfahren, die sie aus seiner Sicht verdienen. Vor allem dann, wenn in Oberschöneweide unweit von Emil Rathenaus Grab in der Rathenaustraße die elektrische Straßenbeleuchtung angeht.