„Mehr Sachlichkeit in die Rentendebatte bringen“

„Die Rente war eigentlich gar nicht mein Thema“. In der freundlichen Stimme von Prof. Dr. Camille Logeay schwingt noch immer ein leises Staunen mit, so, als würde sie sich selbst darüber wundern, mehrere Jahre zu der komplexen Materie geforscht und mit ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter João Domingues Semeano sowie der Förderung der Hans-Böckler-Stiftung ein vielbeachtetes, dynamisches Rentenmodell entwickelt zu haben. Es fand große Resonanz, in der Fachwelt genauso wie in der Öffentlichkeit. Denn: Mit dem Modell lassen sich die Auswirkungen von Reformvorschlägen simulieren. Das Ziel der Makroökonomin: mehr Sachlichkeit und Transparenz in die Debatte zu bringen. Im Oktober 2025 erhielt sie dafür den Forschungspreis der HTW Berlin. Er wird jährlich verliehen und ist mit 6.000 Euro dotiert. 

Ein Vortrag weckte das Interesse am Thema Rente

Der Vortrag eines Kollegen über das österreichische Rentensystem weckte seinerzeit das Interesse der HTW-Wissenschaftlerin, deren Schwerpunkt bis dahin auf Konjunkturanalysen und Arbeitsmarktfragen lag. Es war die Geburtsstunde einer inspirierenden Arbeitsgruppe, „die viel Spass gemacht hat“, erzählt Prof. Dr. Logeay. Das interdisziplinäre, internationale Quintett verglich die Alterssicherung in Deutschland und Österreich und wurde für seine Publikation prompt ausgezeichnet: mit dem Kurt-Rothschild-Preis der Karl-Renner-Stiftung. Das Fazit der Wissenschaftler*innen: Auch die Alpenrepublik kam an Reformen nicht vorbei, hat jedoch andere Akzente gesetzt. Mit dem Ergebnis, dass die Renten höher sind als in Deutschland, Österreich aber makroökonomisch nicht schlechter dasteht. Diese Bewertung wurde später durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigt.

"Wir brauchen ein Modell"

Mit einem Mal war Prof. Dr. Logeay als Expertin gefragt, beispielsweise als Mitglied in einer Arbeitsgruppe der letzten Rentenkommission. Dass die Debatte sehr kontrovers geführt wurde, fand sie richtig, schließlich sei die gesetzliche Rentenversicherung ein existenzielles Thema. Was die Wissenschaftlerin störte: Die Berechnungen der anderen waren schwer nachzuvollziehen. „Wir brauchen ein Modell“, sei ihr rasch klar geworden. Ein dynamisches Modell, mit dessen Hilfe sich simulieren lässt, welche Konsequenzen es beispielsweise hat, das Rentenalter auf 67 Jahre hochzusetzen, Haltelinien zu erlassen oder was auch immer gerade an Vorschlägen im Gespräch auf dem Tisch liegt. Nur mit einem Modell, das man selbst aufgebaut hat, zu dieser Überzeugung war die Makroökonomin gekommen, kann man die Reformvorschläge selbst evaluieren, außerdem sowohl die eigenen Ergebnisse als auch die der anderen Forschenden besser nachvollziehen.

Unterstützung von verschiedenen Seiten

Sie gewann die Hans-Böckler-Stiftung, die Entwicklung des Modells zu finanzieren, und ihren eigenen Fachbereich, die benötigten Freiräume in Gestalt einer Forschungsprofessur für zwei Semester zu genehmigen. „Die Unterstützung durch meine Kolleg*innen war groß“, denkt sie gerne zurück. Als wissenschaftlichen Mitarbeiter holte sie João Domingues Semeano ins Boot, einen Maschinenbau-Ingenieur, der sich in Richtung Data Science spezialisiert hatte. Er beherrscht die Programmiersprache Python, auf der das Modell basiert. Sie nannten es der Einfachheit halber DyReMo. 

Simulationen mit Hilfe des Modells

Was kann DyReMo? Das Modell wird mit rentenrelevantem Input befüllt. Dessen Spektrum reicht von der demografischen Entwicklung über das Lohnwachstum, diverse Arbeitsmarktdaten, insbesondere die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, bis hin zu rentenrechtlichen Bestimmungen. Diese Informationen wurden Prof. Dr. Logeay von einschlägigen Institutionen für die Verarbeitung zur Verfügung gestellt, beispielsweise vom Statistischen Bundesamt oder von der Rentenversicherung. Alles ist präzise aufgesplittet nach Geschlecht, Alters und Region sowie West- und Ostdeutschland. „Statt zu spekulieren, welche Konsequenzen dieser oder jener Reformvorschlag für die Rente hätte, kann man das mit Hilfe unseres Modells nun simulieren“, erklärt die Wissenschaftlerin den Mehrwert des Tools. Sie hat es inzwischen bei zahlreichen Vorträgen präsentiert, in Workshops vorgeführt und in Veröffentlichungen beschrieben. Auch deutsche Leitmedien wie die ZEIT gingen eine Kooperation ein und stellten Abonnent*innen einen Rentenrechner zur Verfügung.  

Ergebnisse können überprüft werden

Das Besondere an DyReMo wird seine Transparenz sein. Die Ergebnisse der Simulationen sind überprüfbar. Jeder und jede wird nachvollziehen können, wie die Ergebnisse zustande kamen und welche Annahmen die Resultate beeinflusst haben. Denn es handelt sich um ein Open Source-Modell. Das heißt: Auch Dritte können damit arbeiten und selbst Berechnungen anstellen. Das war die Bedingung, welche die Hans-Böckler-Stiftung an die Förderung geknüpft. Sie zu erfüllen, war Prof. Dr. Logeay sehr recht. Sie weiß nur zu gut, dass viele Modelle, die bis dato im Einsatz sind, zum Teil kaum dokumentiert sind und damit wenig nachvollziehbare Ergebnisse liefern. 

Open source Zugang mit Spielregeln

Um DyReMo frei zur Verfügung zu stellen, muss es gleichwohl Spielregeln geben. Die werden derzeit im Zuge von Lizenzverhandlungen definiert. „Das ist nicht ganz trivial“, räumt die Ökonomin ein, die von einen Fachjuristen beraten wird. Es gilt, die eine oder andere Schranke einzubauen, um Missbrauch zu verhindern. Auch an den praktischen Zugangsmodalitäten wird noch getüftelt, außerdem an der Benutzerfreundlichkeit. Prof. Dr. Logeay schwebt eine Oberfläche vor, auf der sich die Variablen mit Schiebern verändern lassen und dann die Auswirkungen sichtbar werden. „Bis Mitte 2026 wird alles fertig sein“, ist sie zuversichtlich. Denn die Hochschullehrerin möchte DyReMo unbedingt vor der Freigabe mit ihren Studierenden in einer Lehrveranstaltung Ende 2025 testen. Denn auch für den Einsatz in der Lehre soll das Modell taugen. 

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