Im Maschinenraum der Erneuerbaren Energien

Prof. Dr. Horst Schulte greift zu einer Metapher, wenn ihn die Laiin fragt, wofür die „FGW -Fördergesellschaft Windenergie und andere Dezentrale Energien“ steht, deren Vorsitz er innehat: „Die FGW ist der Maschinenraum der Erneuerbaren Energien“, sagt der Ingenieurwissenschaftler. Tatsächlich werden von der Non-Profit-Organisation, die in Deutschland weit über 100 Mitglieder zählt, jene Standards definiert, Richtlinien verabschiedet und Zertifikate vergeben, die Innovationen und Technologien im Bereich der Erneuerbaren Energien den Weg in die Praxis bereiten. „Wir unterstützen und fördern den Aufbau und den reibungslosen Betrieb einer erneuerbaren Energieversorgung“, formuliert es die FGW selbst auf ihrer Webseite. Seit 2016 zählt Prof. Dr. Horst Schulte zu den Mitgliedern des ehrenamtlich tätigen geschäftsführenden Vorstands, im Juni 2021 übernahm er dessen Vorsitz.

Alle haben Interesse an verlässlichen Standards

Ob Forschungseinrichtung oder Messinstitut, Windenergieanlagenhersteller oder -zulieferer, Planungs- oder Ingenieurbüro, Zertifizierungsgesellschaft, Energieversorgungsunternehmen oder Stromanbieter – sie alle sind Mitglied der FGW. Das Spektrum reicht von der deutschen Niederlassung des Technologieunternehmens ABB über die Kommunal-Wasserversorgung Saar GmbH bis zum kleinen Sachverständigenbüro. Manche konkurrieren auf dem Markt, beispielsweise die Zertifizierungsgesellschaften. „Doch alle wissen, dass die Energieversorgung technische Standards benötigt und jeder hat Interesse daran, dass diese Standards verlässlich sind“, sagt Prof. Dr. Schulte.  Die einen, weil sie Planungssicherheit für teure Investitionen brauchen, andere, weil sie ihre Produkte zertifizieren lassen müssen, wieder andere, weil sie ein Netz betreiben oder dezentral Energie in ein Stromnetz einspeisen, was pannenfrei funktionieren muss.

Mit dem Wind fing es in den 80-er Jahren an

Vergleichbare Standards kennt man aus dem Gesundheitswesen, wo Medikamente erst einmal zugelassen werden müssen, oder aus der Finanzwelt, wo Richtlinien für die Vergabe von Krediten existieren. Der Name FGW verweist übrigens in die Entstehungszeit des Vereins Anfang der 80-er Jahre, als Wind noch kein Geschäftsmodell war und nur eine Handvoll Enthusiast_innen Interesse an dem Thema hatten. „Gerade in Berlin gab es eine gut vernetzte Szene von Ingenieur_innen und Wissenschaftler_innen, wie z.B. das Ingenieurkollektiv Wuseltronik, der Windturbinenhersteller Südwind und das Institut von Prof. Dr. Robert Gasch, die ihr Engagement auch als politisches Statement verstanden“, erinnert sich Prof. Dr. Schulte. Zu einem Markt wurde die Windenergie erst mit dem Inkrafttreten des sogenannten Stromeinspeisungsgesetzes im Jahr 1990, dem Vorläufer des heutigen Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Zum Wind gesellte sich später die Photovoltaik, weshalb die FGW inzwischen den Namen „Fördergesellschaft Windenergie und andere Dezentrale Energien“ trägt. Sie hat sich inzwischen als institutionelle Plattform zur effektiven Verzahnung der technischen, wirtschaftlichen und politischen Aspekte der Windenergienutzung in Deutschland und darüber hinaus etabliert.

Inhaltliche Arbeit in acht Fachausschüssen

Wie muss man sich diese Tätigkeit praktisch vorstellen? Herzstück der FGW ist die Berliner Geschäftsstelle mit Geschäftsführer, Buchhaltung und Sekretariat sowie wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen und Fachreferent_innen. Das zehnköpfige Team koordiniert und moderiert die inhaltliche Arbeit der Gremien, insbesondere die der acht Fachausschüsse, in denen die Technischen Richtlinien erstellt bzw. weiterentwickelt werden. Der eine Fachausschuss kümmert sich um Lärm, der andere um das Windpotenzial, auch „Elektromagnetische Verträglichkeit“ oder „Instandhaltung“ sind Themen, deren Facetten detailliert ausgearbeitet werden. Weil in den Ausschüssen völlig unterschiedliche Stakeholder vertreten sind, wird zwar fachlich diskutiert, aber nicht zu technisch gesprochen, findet Prof. Dr. Schulte, der als Wissenschaftler in seiner scientific community ganz andere Debatten kennt. Bei Kontroversen moderiert die Geschäftsstelle, denn tatsächlich gibt es wohl mitunter unterschiedliche Auffassungen darüber, wie kleinteilig reguliert werden muss.

"Hier werden Weichen für Innovationen gestellt"

Die Richtlinien werden im Umlaufverfahren beschlossen. Dann handelt es sich um verbindliche Ausführungsbestimmungen zu den in der Regel auf Bundesebene verabschiedeten Gesetzen. Die Richtlinien stehen Interessierten digital zur Verfügung, allerdings nicht kostenlos, sondern gegen Gebühren, über die sich die Geschäftsstelle des Vereins refinanziert; das zweite finanzielle Standbein sind die Mitgliedsbeiträge. Wer im Online-Shop auf der Webseite der FGW stöbert, findet dort diverse Technische Richtlinien: „Bestimmung der Schallemissionswerte“, „Betrieb und Instandhaltung von Kraftwerken für Erneuerbare Energien“ oder „Bestimmung von Windpotenzial und Energieerträgen“, aber auch Leistungskennlinien und Referenzzertifikaten. Kein Stromanbieter kann eine Anlage ans Netz, kein Unternehmen ein Produkt auf den Markt bringen, ohne zumindest indirekt durch das Nadelöhr der FGW gegangen zu sein. „Hier werden Weichen für Innovationen gestellt, so wird Forschung in die Gesellschaft gebracht“, sagt Prof. Dr. Schulte.

Engagement mit fachlichem Mehrwert

Diese enorme Praxisrelevanz ist einer der Gründe, weshalb sich der umtriebige Wissenschaftler, selbst ausgewiesener Experte für Regelungstechnik, ehrenamtlich bei der FGW engagiert. Prof. Dr. Schulte schätzt es, aktuelle Herausforderungen aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen. Das bringt ihn inhaltlich voran und hat positive Rückwirkung auf seine eigene Forschung. Als Beispiel nennt er das Projekt POSYTYF, in dem es um nichts Geringeres geht als darum, die dezentrale Energieversorgung neu zu denken. Die Mitarbeit im Verein hilft Schulte, das Thema nicht nur groß zu denken, sondern es auch auf die kommunale Ebene zu bringen, wo der Strom bei den Menschen ankommt. Denn eine dezentrale Energieversorgung ist für Prof. Dr. Schulte auch ein demokratisches Anliegen. Ihm genügt es nicht, Atomstrom und Kohle durch große Windparks und Mega-Photovoltaik-Anlagen zu ersetzen, wenn es bei der Abhängigkeit von einigen wenigen Monopolisten bleibt.

Zwei Stunden pro Woche für das Ehrenamt

Auch wenn er als Vorstandsvorsitzender nicht in das operative Geschäft der FGW involviert ist und in keinem Fachausschuss sitzt, muss er sich für seine ehrenamtliche Tätigkeit etwa zwei Stunden pro Woche nehmen. Prof. Dr. Schulte berät, unterstützt die Geschäftsstelle inhaltlich, vermittelt bei Konflikten und wirbt neue Mitglieder an. „Präzise Richtlinien für Anlagen der Erneuerbaren Energien werden in dem Maße wichtiger, wie die Erneuerbaren Energien an Systemrelevanz gewinnen, ergo die Zuverlässigkeit berechenbarer sein muss“, sagt er.

Noch ganz jung: die "Interessengemeinschaft Flugwind"

Hinzu kommen Innovationen, die helfen, den Anteil der Erneuerbaren Energien an der Energieversorgung zu steigern. Ein gutes Beispiel ist der jüngste Fachausschuss der FGW: die „Interessengemeinschaft Flugwind“. Noch gibt es nur Prototypen dieser Windkraftanlagen, von denen Teile in der Luft fliegen, die aber gleichzeitig durch ein oder mehrere Halteseile am Boden verankert sind. „Derzeit tummeln sich in diesem Nischenmarkt weltweit gerade einmal fünf bis sechs Firmen“, sagt Prof. Dr. Schulte. Doch das werde sich ändern, ist er sicher.

Lösungen für die Allgemeinheit

Bereits heute ist Normierungsarbeit nötig, weil Flugwindkraftanlagen in technischer Hinsicht irgendwo zwischen Kraftwerken und Flugzeugen rangieren und überdies in verschiedenen Höhen unterwegs sein können. Über Best Practice-Beispiele und Details diskutiert in der FGW eine Arbeitsgruppe aus Herstellern, Projektplanern und Universitäten. Sie werden ihr Wissen in Form einer Technischen Richtlinie zur Verfügung stellen. Prof. Dr. Schulte freut sich schon darauf, wenn die erste Anlage genehmigt sein wird. Dann hat die FGW mal wieder unter Beweis gestellt, dass sie ingenieurwissenschaftliche Erkenntnisse und Lösungen sicher, zertifizierbar und reproduzierbar für die Allgemeinheit zugänglich gemacht hat.

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