Filme und Töne erzählen Kulturgeschichte

Charlie Chaplins Filme gehören dazu, die Stummfilme mit Pat & Patachon, Schwarzweiß- Aufnahmen aus historischen Wochenschauen oder vergilbte Familienfotos. Dies und noch viel mehr fällt unter den Begriff „Audiovisuelles Erbe“. Am 27. Oktober wird jährlich weltweit seiner Bedeutung gedacht, auf Initiative der UNESCO. Ein guter Anlass, um mit Prof. Dr. Ulrich Rüdel über die Bedeutung der Materie zu sprechen. Er ist Experte für Filmrestaurierung und beschäftigt sich insbesondere mit Farbverfahren in Filmen und Fotos. Im Bachelor-Studiengang Konservierung und Restaurierung/Grabungstechnik betreut Prof. Dr. Rüdel seit 2015 den Schwerpunkt Audiovisuelles und Fotografisches Kulturgut - Moderne Medien.

Was genau versteht man unter audiovisuellem Erbe?

Prof. Dr. Ulrich Rüdel: Das ist wie so oft eine Frage der Definition. Auf jeden Fall „moving image and sound“, also zeitbasierte Medien wie Film, Video, Tonbänder und Schallplatten. Diskutierbar ist natürlich auch, ob auch Photographien oder audiovisuelle Kunstinstallationen dazugehören. Aber das sind akademische Feinheiten.

Braucht es einen „Welttag“ gegen das Vergessen?

Ja, ich denke schon. Wenn ich nach der Bedeutung von audiovisuellem Kulturgut gefragt werde, zitiere ich gerne den Filmemacher Martin Scorsese. Er sagte meiner Erinnerung nach einmal: „Stellen Sie sich vor, wir hätten Filmaufnahmen von Beethoven, wie er dirigiert!“ Filme und Töne erzählen weltweit Kulturgeschichte.

Also eine internationale Herausforderung?

Genauso ist es. Kulturerbe wird international überliefert und seine Erhaltung ist eine globale Aufgabe. Der monumentale Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang aus dem Jahr 1927 ist ein Paradebeispiel. Die längste heute noch existierende Fassung tauchte in Argentinien auf. Oder ein anderes Beispiel: Bei dem ältesten koreanischen Film "Im Land der Morgenstille" von 1925 handelt es sich um eine deutsche Produktion, nämlich einen bayerischen Missionsfilm, der bis heute in einem Kloster aufbewahrt wurde. Eine koreanische Studentin untersuchte ihn seinerzeit an der HTW Berlin unter Betreuung von Prof. Koerber, meinem Vorgänger, der für Filmrestaurierung im deutschsprachigen Raum so ungeheuer viel geleistet hat. Ich durfte als Zweitbetreuer bei diesem hochspannenden Projekt dabei sein. In Europa sind wir natürlich privilegiert, weil mehr Mittel für die Erhaltung des audiovisuellen Erbes zur Verfügung stehen. In Sri Lanka oder Indien schaut es beispielsweise ganz anders aus, nicht nur in klimatischer Hinsicht.

Kommen auch die Studierenden aus aller Welt?

Wir hatten vor der Pandemie tatsächlich bis zu 50 Prozent internationale Studierende im Schwerpunkt „Audiovisuelles und Fotografisches Kulturgut - Moderne Medien“. Spannend und auch einzigartig an der HTW Berlin ist, dass der Bachelorstudiengang drei weitere Studienschwerpunkte bietet, nämlich auch das Archäologisch-Historische Kulturgut, Moderne Materialien und Technisches Kulturgut sowie Grabungstechnik - Feldarchäologie. Ferner arbeiten wir in einem Projekt zur Erschließung und Digitalisierung photographischer Sammlungen mit Prof. Dr. Kähler jedes Jahr gemeinsam mit Museologie-Student*innen. Da gibt es viele spannende Berührungspunkte.

Werden heutzutage noch neue Filme entdeckt?

Selbstverständlich. Wir erschließen beispielsweise derzeit zusammen mit dem Berliner Technikmuseum einen spannenden Kellerfund, den uns die Familie von Hermann Kricheldorff überlassen hat. Kricheldorff war ein Kameramann der Stummfilmzeit, im Keller befanden sich diverse Filme, vornehmlich wohl insektenkundliche Lehrfilme, aber auch Gerätschaften. Dieser Schatz wird nun im Rahmen von studentischen Projekten erschlossen. Das Fachgebiet ist noch jung und es bedarf auch Studierender, um Methoden für die Bewahrung von audiovisuellem Erbe zu entwickeln und sie praktisch umzusetzen.

Wie geht man in solchen Fällen vor?

Sie können sich auf jeden Fall nicht einfach auf den Film stürzen und ihn anschauen! Zunächst wird er genau untersucht. Das passiert an einem Umrolltisch, an dem man die Einzelbilder betrachten kann, und den Zustand begutachtet. Manchmal muss man dabei auch ganz besondere Vorsicht walten lassen. Die bereits erwähnten Filmrollen aus dem Berliner Keller waren schimmelkontaminiert, da sind dann eine FFP3-Maske und eine Abzugshaube nötig.

Man sucht nach Materialspuren wie etwa Klebestellen und Kantenbeschriftungen, durch die die Kopie ggf. datiert werden kann, und recherchiert ergänzende historische Dokumente wie z.B. eine sogenannte Zensurkarte, wenn überliefert. Filme wurden ja lange zensiert, die dabei entstandenen, in Deutschland extrem detaillierten Zensurkarten sind heute wichtige Dokumente für uns. Man vergleicht Kopien, Materialien und achtet auch auf scheinbar irrelevante Details. Oft ist es eine detektivische Arbeit. Befindet sich der Film auf einer einzigen Rolle oder wurde er in viele kleine Rollen aufgeteilt? Hat das eine Bedeutung und wenn ja, welche – waren diese etwa nach Farben sortiert? In welchem Zustand ist der Film - womöglich brüchig oder geschrumpft - und durch welche Geräte kann er überhaupt laufen?

Je mehr man auch aus anderen Gebieten weiß, also aus Literatur, Theater, Musik und Architektur, desto mehr sieht man. Filme sind in konzeptioneller wie technischer Hinsicht sehr umfassend.

Wie kamen Sie zu Ihrem Fachgebiet?

Ich habe schon immer gerne Werke aus der gesamten Filmgeschichte angeschaut, wollte aber auch Hintergrundwissen dazu haben. Für mich als promovierten Naturwissenschaftler gab es da viele Anknüpfungspunkte. 2004 habe ich dann den Sprung gewagt, meinen Job in der Biotech-Industrie an den Nagel gehängt und im weltältesten Museum der Fotografie, im George Eastman House in New York, eine Weiterbildung gemacht. Das Eastman House ist gleichzeitig ein bedeutendes Filmarchiv, das passte wunderbar zu meinen Interessen. Ich habe ein besonderes Faible für die authentische Wiedergabe von Filmfarben und durfte damals an den dort aufbewahrten Original-Technicolor— Forschungsdokumenten arbeiten. Im Gefolge habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Dr. Elza Tantcheva-Burdge von der Colour Group Britain die Konferenz „Colour in Film“ ins Leben gerufen. Farbe hat ja einerseits mit Physik und Chemie zu tun, andererseits aber eben auch mit dem Gehirn, der Wahrnehmung und natürlich der Ästhetik.

Gibt es einen wichtigen Trend?

Die Digitalisierung von Archivbildern ist aktuell ein dominanter Trend. Sorge bereitet mir die Inflation von digital überarbeiteten, etwa computerkolorierten Bildern, die als historisch missverstanden werden. In Zeiten, in denen der Zugriff auf altes Filmmaterial leichter wird und immer mehr technische Werkzeuge für die Bearbeitung auch durch Amateure zur Verfügung stehen, wird der Geschichtsfälschung Tür und Tor geöffnet.

Auch über die kommerzielle Aufbereitung von historischen Aufnahmen kann und muss man streiten. Ich denke da an Peter Jackson und seinen Film „They shall not grow old“ über den 1. Weltkrieg, der 2019 auch in deutschen Kinos lief. Jackson hat historische Stummfilmbilder aus Wochenschauen restauriert, koloriert, beschnitten sowie mithilfe von 3D-Technologie konvertiert und anschließend mit nachsynchronisierten Kommentaren von Zeitzeugen unterlegt. „So real hat man den Ersten Weltkrieg noch nie gesehen“, fand der SPIEGEL. Dem würde ich dezidiert widersprechen, ohne das Werk von vorneherein oder vollständig abzuweisen. Aber und derlei Vorgehen bringt auch Gefahren mit sich, wie ich mit meiner Kollegin Prof. Dr. Franziska Heller in einem Beitrag für das Online-Portal kinofenster.de der Bundeszentrale für politische Bildung diskutieren konnte.

Und manches ist einfach unethisch. Die Kolorierung von Filmaufnahmen aus Auschwitz – das ist tatsächlich passiert! - empfinde ich schlicht als so etwas wie Grabschändung zum Zwecke des ‚Infotainments.‘