„Es macht mir Spaß, anderen etwas beizubringen“

Dienstagnachmittag um halb vier. Die angehenden Maschinenbauer (Bachelor) haben gerade drei Stunden Vorlesung zum Thema Werkstoffkunde hinter sich. Harter Tobak, finden einige und reißen das Fenster auf. Ein paar Minuten Pause und die frische Luft tun jetzt gut, denn noch ist für sie nicht Feierabend. Sie haben noch eine Verabredung mit John Selbig. Der 28-jährige Master-Student ist ihr Tutor, Mathe war schon immer sein Ding. Was anderen oft genug Kopfzerbrechen bereitet — Formeln herzuleiten und komplexe Berechnungen — fällt ihm leicht und macht ihm Spaß.

Dass man die Welt mit anderen Augen sieht, wenn man ihre alltäglichen Phänomene in Gestalt von Brückenlasten, Fahrzeugbeschleunigungen und Wachstumsraten berechnen kann, das möchte er seinen Kommilitonen gern zeigen. Seit mehr als drei Jahren bringt er Studierenden der verschiedensten Studiengänge daher Mathematik und in Technische Mechanik nahe. Mal in 14-tägigen Kompaktkursen zu Studienbeginn und mal in semesterbegleitenden Fachtutorien.

„Es geht los, Männer“, motivieren sich die zwölf Maschinenbaustudenten und beugen sich über ihre Laptops und Unterlagen. Draußen wird es gerade dunkel. In den nächsten 90 Minuten gehen sie gemeinsam mit John Selbig die Aufgaben durch, die schon bald so oder so ähnlich in den Klausuren abgefragt werden.

„Viele Studierende trauen sich nicht, ihre Fragen dem Professor zu stellen“

Das Prinzip der Tutorien ist so einfach wie wirkungsvoll: Studierende bringen ihren Kommilitonen etwas bei – auf Augenhöhe. „Dieses Peer-to-Peer-Format ermöglicht eine besondere Lernatmosphäre“, erklärt Astrid Böge. Im Rahmen des Projektes “Berliner Qualitäts- und Innovationsoffensive (QIO)” kümmert sie sich um die etwa 40 HTW-Tutor_innen. „Tutorien sind fester Bestandteil der Lehre. Und die studentischen Tutor_innen leisten hier wirklich eine ganze Menge: Sie erleichtern Studienanfängern den Start ins Hochschulleben, ermuntern zu selbstständigem Lernen, helfen in Übungen das Fachwissen zu festigen und wissen Rat bei Lernschwierigkeiten“, zählt Böge auf. Und vor allem: Sie sind meist einfach näher dran an den Sorgen und Fragen der Studierenden.

So wie John Selbig. „Viele Studierende trauen sich nicht, ihre Fragen dem Professor bzw. der Professorin zu stellen. Einige ältere Lehrende können sich auch nicht mehr so gut in die Studenten reinversetzen und verstehen nicht, was genau er oder sie denn nicht versteht. In den Vorlesungen geht es vor allem um kompakte Wissensvermittlung, Üben ist kaum noch vorgesehen. Das ist in einem Tutorium anders. Da herrscht eine sehr vertrauensvolle Atmosphäre. Hier kann jeder alles fragen und solange üben, bis er verstanden hat“, erläutert John Selbig. Wer an Tutorien teilnimmt, macht das freiwillig — und schätzt das gemeinsame begleitete Lernen in einem geschützten Raum.

Panzerknackerwissen: Welche Kräfte wirken auf eine Tresortür?

Heute sollen die Teilnehmer aus den vorgegebenen Maßen und anhand des Gewichts einer 300 Kilogramm schweren Tresortür die Kräfte berechnen, die auf die Scharniere und die Wand wirken. Mit Mathematik lassen sich also im Ernstfall Diebstähle oder Gebäudeschäden verhindern! John Selbig zeichnet Skizzen und Formeln an das Whiteboard und bittet um Lösungsvorschläge. Gemeinsam leiten die Männer Schritt für Schritt die Formeln her, die zur Lösung führen. Wer etwas nicht gleich versteht, fragt sofort nach. Oder Selbig fragt nach, wenn er verzagte Blicke im Rücken spürt.

Alle sind konzentriert bei der Sache. Nach und nach füllt sich das Board mit Zahlen und am Ende steht das Ergebnis der ersten Übung fest. Es werden noch viele andere folgen. John Selbig gibt zwischendurch immer wieder Tipps für die Klausuren und ermuntert „seine“ Teilnehmer, den Stoff wenn möglich nochmal allein oder in Lerngruppen zu vertiefen. Erstsemester Justin Rudolph schätzt Johns Art: „Er weiß, wie die Professoren ticken und gibt uns hilfreiche Tipps. John macht einen super Job als Tutor!“

Der Berliner mag es, anderen etwas beizubringen und zu sehen, wie jemand dazulernt. „Am schönsten ist es, wenn Leute, die am Anfang stark an sich zweifeln, durch regelmäßiges Üben immer mehr verstehen und Selbstvertrauen entwickeln. Wenn ich sie dann später auf dem Campus treffe und sie mir sagen, dass sie in den Klausuren gute Noten geschrieben haben, dann ist das toll“, beschreibt er seine Motivation.

Dass er didaktisches Talent hat, hat John bei seinem Grundwehrdienst gemerkt. Da war er Hilfsausbilder. Und in gewisser Weise ist er das noch immer, nur eben im akademischen Umfeld.  An der HTW Berlin begegnet er ganz unterschiedlichen Charakteren: „In die Kompaktkurse zu Semesterbeginn kommen nur Erstsemester. Manche haben gerade erst ihr Einser-Abi gemacht. Andere waren bereits lange berufstätig und haben große Schwierigkeiten. Denen geht es nicht nur um Mathe, sondern auch darum zu verstehen, wie das Studieren funktioniert.“ John Selbig kann sich auf sie alle einzustellen, menschlich und fachlich.

Gut gelernt, gut gelehrt

Dass sich sein eigenes Studium bald erfolgreich dem Ende nähert, hat er ein Stück weit auch denen zu verdanken, die vor ihm Tutor_in waren: „Ich habe damals vor dem Studienstart den Kompaktkurs Mathe gemacht und im ersten Semester dann die Tutorien Lineare Algebra und Technische Mechanik besucht. Dass die von Studenten gehalten wurden und wir auch alle unsere Fragen rund ums Studium stellen konnten, war sehr hilfreich.“ Von ihnen hat er viel gelernt und gibt dieses didaktische Wissen auch gern an andere Tutor_innen weiter.

Wenn John Selbig den Master-Abschluss in der Tasche hat, will er mit großen Maschinen, Konstruktionen oder Fahrzeugen arbeiten. Vielleicht ja bei Siemens, wo er selbst vor dem Fachabitur Anlagenbauer gelernt und als Maschinenführer gearbeitet hat. „Ich kann mir aber auch vorstellen, später einmal als Lehrkraft zu arbeiten. Denn Lehren macht mir Spaß.“ Vielleicht steht er also irgendwann einmal wieder vor der Studierenden der HTW Berlin – und macht ihnen Mut bei Mathe und und Lust auf Technik.