Vielfalt verteidigen

Die Zahl der Beratungsanfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat sich zwischen 2019 und 2024 nahezu verdreifacht. Ethnische Herkunft, Rassismus und Antisemitismus sind die am häufigsten genannten Diskriminierungsmerkmale, gefolgt von Behinderungen und Geschlecht. Auch vor Hochschulen macht Diskriminierung nicht halt.

"Forschung und strukturelle Maßnahmen an Hochschulen zu Diversität und Gleichstellung sind nötiger denn je", betont Dr. Ulrike Richter, Hauptberufliche Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte. Trotzdem würden diese im wissenschaftspolitischen Diskurs immer häufiger diskreditiert und zum Beispiel als unnötige Bürokratie an Hochschulen dargestellt. Gleichzeitig werden vor dem Hintergrund der drastischen Kürzungen an Hochschulen in Berlin und anderen Bundesländern die notwendigen Förderprogramme schnell zu "Sparpotential". „Das ist eine besorgniserregende Entwicklung und kann ein Einfallstor für demokratiefeindliche Positionen im wissenschaftspolitischen Diskurs sein“, unterstreicht Dr. Jette Hausotter, die gemeinsam mit Dr. Ulrike Richter das Referat für Gleichstellung und Antidiskriminierung an der HTW Berlin leitet. 

Die HTW Berlin setzt sich seit vielen Jahren für Vielfalt ein, um ein sicherer, diskriminierungs- und gewaltfreierer Lern-, Lehr- und Arbeitsort zu werden. Im Gespräch erklären Prof. Dr. Annabella Rauscher-Scheibe, Dr. Ulrike Richter und Dr. Jette Hausotter, was die HTW Berlin unternimmt, um die Vielfalt an der Hochschule zu verteidigen. 

Seit wann beschäftigt sich die HTW Berlin mit dem Thema Vielfalt?

Annabella Rauscher-Scheibe: Vielfalt gehört gewissermaßen zur DNA der HTW Berlin. Als die Hochschule 1994 aus verschiedenen Vorgängereinrichtungen hervorging, kamen unter ihrem Dach Beschäftigte, Professor*innen und Studierende aus Ost- und West-Deutschland sowie weiteren Nationen zusammen. Seit jeher versteht sich die HTW Berlin als vielfältige Hochschule. Das gilt sowohl für die Vielfalt der Forschungsgebiete, als auch für die Vielfalt ihrer Mitglieder. Inzwischen studieren, lehren, forschen und arbeiten rund 16.000 Menschen aus 130 Ländern mit den verschiedensten Biographien an der HTW Berlin. Das Thema Vielfalt ist in verschiedensten Strategiepapieren verankert, vom Leitbild Lehre über die Forschungsstrategie der Hochschule bis hin zur Antidiskriminierungsrichtlinie. 

Die HTW Berlin hat 2023 das Diversity Audit abgeschlossen. Welche Maßnahmen wurden und werden durchgeführt?

Annabella Rauscher-Scheibe: Zusammen mit einer externen Auditorin hat die HTW Berlin ein zweijähriges Verfahren durchlaufen und eine passgenaue Diversity-Strategie erarbeitet. Diese betrifft sowohl organisatorische Strukturen als auch Studium und Lehre, Forschung und Nachwuchsförderung, Kommunikation und Personal. In fünf hochschulöffentlichen Workshops entstand ein Aktionsplan. Unter dem Motto „Gemeinsam auf dem Weg zu selbstverständlich gelebter Vielfalt“ konnten zahlreiche Maßnahmen entwickelt und teils auch schon umgesetzt werden. Diese reichen von der Schaffung neuer Strukturen und Stellen im Bereich Antidiskriminierung über Diversity Checks für Lehrmaterialien bis hin zu Fortbildungsangeboten für Beschäftigte und Kommunikationskampagnen.

In den zwei Jahren seit dem Audit ging es gerade auch darum, verschiedene Zielgruppen besser zu informieren, welche Angebote und Anlaufstellen es an der Hochschule gibt und dies auch gezielt mit dem Stichwort Vielfalt zu verbinden. Es ist wichtig, dass internationale Studierende, queere Hochschulangehörige, Menschen mit Rassismuserfahrungen, Eltern, pflegende Angehörige und andere Gruppen wissen, dass die Hochschule Vielfalt fördern will. Das soll alle dazu ermutigen sich einzubringen, aber auch Kritik zu äußern, damit wir besser werden können.

Wichtig ist uns, dass wir Hochschulmitglieder mit besonderer Verantwortung für eine gerechte und diskriminierungsfreie Hochschule erreichen: Führungskräfte, Professor*innen und Menschen in Gremien und Ämtern spielen eine Schlüsselrolle, damit die Hochschule ihrem Selbstanspruch gerecht wird. Und nicht zuletzt haben wir die Zentrale Antidiskriminierungsstelle besetzt und das Netzwerk der Erstberater*innen ausgebaut. Bei der Etablierung der Prozesse und Strukturen im Bereich Diversity konnten wir an die langjährigen Erfahrungen aus der Gleichstellungsarbeit anknüpfen.

Wo steht die HTW Berlin beim Thema Gleichstellung und Frauenförderung?

Ulrike Richter: Wir stehen an dem Punkt, dass wir Frauenförderung, Gleichstellung und Antidiskriminierung eng aufeinander beziehen. Es gibt viele Überscheidungen, zum Beispiel beim Thema Beratung und Beschwerdeverfahren. Daher wurde das Referat Frauenförderung und Gleichstellung zum Referat Gleichstellung und Antidiskriminierung weiterentwickelt. Die HTW erzielt seit Langem anerkanntermaßen große Gleichstellungserfolge. Zuletzt wurden diese mit der Verleihung des Prädikats „Gleichstellungsstarke Hochschule“ im Rahmen der Bewerbung der HTW Berlin im Professorinnenprogramm 2030 gewürdigt. Diese Erfolge gehen u.a. darauf zurück, dass wir die Gleichstellungsarbeit von je her partizipativ gestalten. Wir nehmen die Verständigungs- und Aushandlungsprozesse ebenso wichtig wie die Ergebnisse dieser Prozesse. Und das lässt sich sehr gut auf die Diversity-Themen übertragen. Wir schaffen Räume, in denen die beteiligten Akteur*innen Positionen abwägen und reflektieren, dialogisch Haltungen entwickeln, Konflikte produktiv wenden und verbindliche Maßnahmen ableiten können. Da die Gleichstellungsarbeit und ihre Protagonist*innen nicht nur den üblichen Widerständen, sondern auch zunehmend heftigeren politischen Angriffen ausgesetzt sind, sind diese Zusammenhalt stiftenden, demokratischen Praktiken tragend und auch wichtig für die Resilienz aller Hochschulangehörigen, die sich für Frauenförderung, Gleichstellung und Diversität einsetzen.

Wie unterstützt die HTW Berlin Chancengerechtigkeit und Bildungsaufstieg?

Annabella Rauscher-Scheibe: Die HTW Berlin steht für ein anspruchsvolles Studium und hat sich zum Ziel gesetzt, Bildungschancen für alle zu bieten. Durch spezielle Angebote wie die Mathe-Brückenkurse, das O ja! Orientierungsjahr und neuerdings das Studium hoch zwei, das Studium und eine Ausbildung oder Berufstätigkeit im Unternehmen verbindet, sprechen wir verschiedene Zielgruppen an. Viele Studierende sind die ersten in ihrer Familie, die einen akademischen Abschluss anstreben. Die HTW Berlin ist bei den Studierenden ohne Abitur auf Platz eins in Berlin und auf Platz fünf bundesweit. Hinter diesem Erfolg steht eine bewusste Entscheidung, Bildungsaufstieg zu ermöglichen: Zehn Prozent der Plätze in zulassungsbeschränkten Studiengängen stehen bei uns bereits seit 2006 für beruflich Qualifizierte über eine Vorabquote zur Verfügung. Die HTW Berlin hat ein Familienbüro und setzt sich für eine familiengerechte Studienorganisation ein. Für Studierende mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen gibt es eine eigene Anlaufstelle in der Studienberatung und Mitarbeiter*innen erfahren unter anderem Unterstützung durch die Vertrauensperson der schwerbehinderten Beschäftigten.

Was tut die Hochschule im Bereich Antidiskriminierung?

Jette Hausotter: Die wichtigste Neuerung ist sicher die Zentrale Antidiskriminierungsstelle. Damit wurde eine unabhängige Anlaufstelle für die Meldung von Diskriminierungsvorfällen geschaffen.Viele denken hier wahrscheinlich zuerst an persönliches Fehlverhalten und Sanktionen. Auch das kommt vor. Ebenso wichtig ist aber die Prävention. Die Meldungen von Hochschulmitgliedern helfen uns dabei, Prozesse und Regelungen zu identifizieren, die ein Diskriminierungspotenzial aufweisen und dort nachzubessern. Die Zentrale Antidiskriminierungsstelle setzt – abgesehen von sensibilisierenden und aufklärenden Gesprächen mit Beteiligten - übrigens nicht selbstständig Maßnahmen um. Sie hat vielmehr die Aufgabe, Meldungen zu prüfen und daraus Empfehlungen an die Hochschulleitung abzuleiten. Dies macht sie nicht allein, sondern sie wird dabei von einem sogenannten Vertrauensteam geschulter Hochschulangehöriger unterstützt. 

Annabella Rauscher-Scheibe: Eine unabhängig Stelle schafft zum einen Vertrauen, zum anderen brauchen wir eine qualifizierte Person, die Beschwerden verantwortlich nachgeht, das ist ein Arbeitsaufwand, der nicht „nebenbei“ zu leisten ist.

Wie vernetzt sich die Hochschule mit dem Kiez beim Thema Vielfalt?

Jette Hausotter: An der HTW Berlin ist die Auffassung von Wissenschaft als gesellschaftliche Verantwortung sehr stark. Das lässt sich an den vielfältigen Transferaktivitäten ablesen. Das Erstarken der extremen Rechten und demokratiefeindlicher Akteur*innen innerhalb und außerhalb der Parlamente macht mir große Sorgen. Gleichstellung, Diversität und Antidiskriminierung werden gezielt angegriffen. Sei es auf struktureller Ebene, aber auch in Form von gebündelten Angriffen auf Einzelpersonen. Dies betrifft Hochschulen genauso wie andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen. Deswegen ist es wichtig, zusammenzustehen und sich zu vernetzen. Die HTW Berlin ist Partnerin im Bündnis für Demokratie und Toleranz Treptow-Köpenick, das im Jahr 2000 auf Initiative der Bezirksverordnetenversammlung gegründet wurde. Im Pride Monat haben wir gemeinsam mit anderen Berliner Hochschulen und vielen öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen die Regenbogenfahne für queere Sichtbarkeit gehisst und das queere Herbstfest des Bezirks hat in diesem Jahr auf dem Campus Wilhelminenhof stattgefunden. Die HTW Berlin nimmt außerdem teil an der Aktion Noteingang, die Betroffenen physischer Angriffe an ihren Standorten wortwörtlich die Türen öffnet und einen Schutzraum bietet.