Wärme aus der Spree und dazu Solarthermie?
Was sich in dem unscheinbaren Backsteingebäude mitten auf dem Campus Wilhelminenhof befindet, dürften nur wenige Studierende und Beschäftigte der HTW Berlin wissen. Hinter den blauen Stahltüren verbrennen zwei Kessel sowie ein kleines Blockheizkraftwerk Erdgas, damit es in Seminarräumen und Büros der Hochschule warm wird. Die von der Berliner GASAG betriebene Anlage versorgt außerdem drei weitere Orte mit Energie: die Villa Rathenau, die Stephanus-Werkstätten sowie das Unternehmen First Sensor. Ein kleines Wärmenetz also, aber leider kein feines. Nicht fein, weil pro Jahr rund 2.250 Tonnen CO2 emittiert werden, die den Klimawandel anheizen. Wäre es technisch machbar, die Wärmeversorgung auf dem Campus auf erneuerbare Energien umzustellen? Prof. Dr. Friedrich Sick hat begonnen, die Möglichkeiten auszuloten.
Die Wärmeversorgung hat ein hohes Einsparpotenzial
Das Thema interessiert den Ingenieurwissenschaftler nicht nur, weil es in sein Fachgebiet fällt; Prof. Dr. Sick ist spezialisiert auf nachhaltige Energiekonzepte für Gebäude und Quartiere sowie auf dynamische Gebäude- und Anlagensimulation. Für ihn entscheidender ist das enorme CO2- Einsparpotenzial bei der Wärmeversorgung. „Da ist viel zu holen, noch mehr als bei der Stromversorgung“, sagt er. In Deutschland werden 40 Prozent der Endenergie in Gebäuden verbraucht, der überwiegende Teil für Wärme (85 Prozent). Ähnlich stellt es sich auf dem Campus Wilhelminenhof dar: Die Hochschulgebäude, deren Energiebedarf gut dokumentiert ist, benötigen jährlich im Schnitt 6.800 Megawattstunden für Wärme und 3.400 Megawattstunden (2023) für Strom. Während die Wärme noch komplett fossil erzeugt wird, stammen immerhin schon etwa 10 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien, was jährlich knapp 138 Tonnen CO2 spart.
Umstellung im Bestand ist schwierig
Der Campus ist in punkto Dekarbonisierung der Wärmeversorgung auch deshalb ein sehr interessantes Forschungsfeld, weil hier, wie fast überall in Deutschland, „im Bestand“ gedacht werden muss. Bestehende Gebäude umzurüsten, ist aber ungleich schwieriger als einen Neubau fossilfrei zu planen oder ein ganzes Quartier, wie es beispielsweise die DIEAG auf dem benachbarten Behrens-Ufer realisieren will.
9.500 Megawattstunden werden gebraucht
Welche technischen Möglichkeiten gibt es, jene 9.500 Megawattstunden, die HTW Berlin, First Sensor, die Villa Rathenau und die Stephanus-Werkstätten pro Jahr gemeinsam verbrauchen, umweltfreundlich zu erzeugen? Das größte Potenzial sieht Prof. Dr. Sick in der Installation einer Flusswasserwärmepumpe. Jene beiden Flusswasser-Großwärmepumpen in der Nachbarschaft, die 2023 von der Blockheizkraftwerks-Träger- und Betreibergesellschaft (BTB) in Betrieb genommen wurden, hat sich der Ingenieurwissenschaftlicher schon angeschaut. 700 Kubikmeter Spree-Wasser werden dort stündlich abgezweigt, um ihm Wärme zu entziehen und diese über die besagten Wärmepumpen auf ein höheres Temperaturniveau zu heben. Anschließend fließt das etwa vier Grad kühlere Wasser in die Spree zurück. Das ist im Sommer sogar von Vorteil für das Gewässer: Die Kühlung stabilisiert den Fluss und beugt Sauerstoffarmut vor. Die speziell für den mittelständischen Energieversorger hergestellte Anlage gehört zu den größten ihrer Art in Deutschland und deckt rund ein Drittel des Sommerwärmebedarfs der BTB-Kunden.
Ein Teil der Energie könnte aus der Spree kommen
„Eine Flusswasserwärmepumpe könnte ein Drittel bis maximal die Hälfte unserer Wärmeenergie liefern“, schätzt Prof. Dr. Sick. Sie käme für den Campus in Frage, müsste aber kleiner dimensioniert werden. So weit so gut. Erster Haken an der Sache: In kalten Wintern müssen die Pumpen abgeschaltet werden, weil Vereisung droht. „Je nach Technologie ist das schon bei einer Wassertemperatur von acht Grad nötig, manchmal auch erst bei drei Grad“. Zweiter Haken: Die BTB kann die Energie in ihr 160 Kilometer langes Fernwärmenetz einspeisen, wo sie kontinuierlich abgenommen wird. Der Bedarf auf dem Campus Wilhelminenhof ist stärker saisonal geprägt. Allerdings gibt es mit First Sensor einen industriellen Abnehmer, der kontinuierlich Energie für seine Produktion benötigt. Also vielleicht doch ein Baustein für die Umrüstung.
Solarthermie könnte ergänzen
Zweite Option: Solarthermie. „Thermische Kollektoren könnte man derzeit auf zwei bis drei Brachflächen aufstellen“, hat Prof. Dr. Sick ausgekundschaftet, vorausgesetzt, die Areale sind städtebaulich nicht anderweitig verplant. Für die Module würden auf jeden Fall mehrere 1000 Quadratmeter gebraucht. Auch diese Option hat einen Haken: Kollektoren erzeugen Wärme primär im Sommer, wenn wenig Wärme benötigt wird. „Doch etwa 2000 Megawattstunden wären erzeugbar“, meint der Ingenieurwissenschaftler.
Abwasserwärme mit Fragezeichen
Für die Nutzung in Frage käme drittens Abwasserwärme. „Ikea heizt damit sein ganzes Möbelhaus an der Landsberger Allee“, gibt Prof. Dr. Sick ein Beispiel. Unter der Magistrale führt ein großer Kanal ganzjährig ca. 20 Grad warmes Abwasser. Ob es einen solchen Kanal unter der Wilhelminenhofstraße gibt und dieser groß genug wäre, weiß der Ingenieurwissenschaftler noch nicht.
Geothermie kommt nicht in Frage
Auch für Geothermie wäre Platz auf dem Campus. Diese Technologie, bei der Erdwärme mit Wärmepumpen auf ein nutzbares Temperaturniveau gehoben wird, ist in Berlin schon weit verbreitet. „Dazu müssten Erdsonden gebohrt werden, am besten flächensparend unter den Kollektoren der Solarthermie, für die das Erdreich mit Hilfe der Sonden zum saisonalen Speicher würde“, sagt Prof. Dr. Sick. Aber da der Campus Wilhelminenhof in einem Wasserschutzgebiet liegt, kommt Geothermie nicht in Frage. Zwei weitere Optionen hat Prof. Dr. Sick ebenfalls verworfen: Zum einen die Nutzung der Abwärme des Hochschulrechenzentrums, weil dieses relativ weit entfernt vom Campus liegt und nicht am Wärmenetz hängt. Zum anderen die Installation einer Luftwärmepumpe, weil mit ihr unter fünf Grad Außentemperatur nichts zu holen wäre.
Biomasse für den restlichen Energiebedarf
„Den Rest des Energiebedarfs“, kommt er zum Schluss seiner Liste, „könnte man mit Biomasse befriedigen“. Das heißt: Man würde zum Beispiel die vorhandenen Gaskessel von Erdgas auf Biogas umstellen. Das wäre natürlich Aufgabe der GASAG als Netzbetreiber. Doch das Unternehmen hat Interesse am Gesamtprojekt bekundet, die Voraussetzungen sind also nicht schlecht.
Die Bestandsaufnahme läuft noch
Noch hat Prof. Dr. Sick die Recherche nicht abgeschlossen, steckt er mitten in der Bestandsaufnahme sämtlicher Wärmeerzeuger und -verbraucher, wie es in seinem Teilarbeitspaket heißt. Damit ist er eingebunden in das Projekt „WaNdel!4 - Wissen für angewandte Nachhaltigkeit an deutschen Hochschulen“, in dessen Verlauf bis Ende 2025 und mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein Wegweiser zu einem grünen und nachhaltigen Campus erarbeitet werden soll. Die Wärmeversorgung ist dabei nur einer von mehreren Bausteinen.
Ohne vorherige Simulationen geht nichts
Zu seinem Arbeitspaket gehören auch konkrete Vorschläge für die gewünschte Transformation. Ehe der Ingenieurwissenschaftler die Anregungen guten Gewissens unterbreiten kann, wird er das Netz in einem vereinfachten energetischen Modell abbilden, um sämtliche Alternativen nach allen Regeln der technischen Kunst simulieren zu können. „Das ist wichtig, um Risiken auszuschließen und die beste Variante zu finden“, erklärt er. Einfach so ins Blaue hinein könne man auf keinen Fall umstellen.
Abstimmung mit allen Beteiligten
Außerdem wird sich Prof. Dr. Sick nicht nur hochschulintern mit wichtigen Akteuren abstimmen, beispielsweise mit der Abteilung Technische Dienste, sondern auch das Gespräch mit der GASAG als Netzbetreiber und den drei Netznutzern vertiefen bzw. suchen, um mit ihnen Vorteile und Risiken abzuwägen und bei möglichen Lösungen auf individuelle Bedürfnisse achten zu können. Der erste Stakeholder-Workshop ist für Mitte 2024 geplant.
Decarbonisierung gibt es nicht zum Nulltarif
Was der Ingenieurwissenschaftler heute schon sagen kann: Die Umstellung des Wärmenetzes von fossiler Energie auf regenerative Energiequellen müsste schrittweise erfolgen, mit dem Erdgas als Fallback-Lösung. Auf einen Schlag ließe sich die Transformation auf keinen Fall bewerkstelligen. Und die Umstellung wäre mit Baumaßnahmen verbunden, ergo auch Investitionen. Zum Nulltarif ist die Dekarbonisierung nicht zu haben.