Windräder in die Stadt und auf hohe Berge
Auf dem flachen Land und auf hoher See bieten sie ein vertrautes Bild: Windenergieanlagen, deren Rotorblätter sich mal schneller, mal gemächlicher drehen. Doch mittelfristig müssen diese Anlagen auch rauf auf Hausdächer in Städten sowie auf die Berge, wo der Wind besonders kräftig bläst. Anders wird die Klimawende nicht gelingen, lässt sich die Energieversorgung von Städten und Siedlungen nicht nachhaltiger gestalten. Aber: „Standardspargel haben im urbanen Raum und auf Bergen natürlich nichts zu suchen“, lächelt Prof. Dr. Horst Schulte. Dafür gebe es bessere Alternativen.
Arbeit in großen und kleineren Projekten
Daran, dass diese Alternativen Wirklichkeit werden, arbeitet der Ingenieurwissenschaftler im Studiengang Elektrotechnik (Fachbereich 1) seit vielen Jahren mit unerschöpflicher Energie: in großen, öffentlich geförderten Forschungsvorhaben genauso wie in kleinen Projekten, für die etappenweise Gelder akquiriert werden. Zwischen der Zoom-Konferenz mit einem spanischen Kooperationspartner in Barcelona und der Arbeit an seiner nächsten wissenschaftlichen Publikation nimmt sich Prof. Dr. Horst Schulte ein Stündchen Zeit, um im Gespräch einen Einblick zu geben.
Kooperation mit dem Berliner Startup MOWEA
Wo anfangen? Bei den Windrädern in der Stadt, denn die sind einem in Berlin näher als die Berge. Von dem kompliziert klingenden Projekttitel darf man sich dabei nicht abhalten lassen. Prof. Dr. Schulte, Experte für Regelungstechnik und Modellbildung, vermag durchaus verständlich zu erklären, worin die Herausforderung besteht bei der „Entwicklung eines modularen Kleinwindenergiesystems hinsichtlich Schwingungs- und Akustikerzeugung zur generalisierten Anwendung im Real Estate Bereich“. Gemeinsam mit dem Berliner Startup MOWEA, einem Spin-off der TU Berlin, will er kleine Windenergieanlagen möglichst unauffällig, aber maximal effizient in die Stadt integrieren.
Windanlagen für Hausdächer
Die von MOWEA entwickelten Anlagen für Hausdächer sind nach dem Lego-Prinzip aufgebaut: Sie lassen sich über passende mechanische und elektrische Anschlüsse relativ einfach zusammenstecken. Tatsächlich wirkt die Optik der modularen Anlagen, die sich den Dachgrößen flexibel anpassen können, ein wenig spielerisch. „Ein tolles Blattdesign, bei dem sehr wenig Schall über die Luft verbreitet wird“, lobt Prof. Dr. Schulte. Sein wissenschaftlicher Part wird es sein, die Schwingungen, die auch bei Windenergieanlagen mit kleinen Rotorblättern auftreten, sich gegenseitig stören sowie als Körperschall auf das Gebäude übertragen können, durch eine passende Regelungstechnik zu kompensieren. Auch die aerodynamische Interaktion zwischen den Rotoren gilt es zu untersuchen, um daraus eine leistungsoptimierte Betriebsstrategie ableiten zu können.
Feldtests mit Prototypen in Berlin
Eine probate Methode für diese wissenschaftlichen Arbeiten sind Simulationen am Rechner. Doch weil er auch echte Daten braucht, planen Prof. Dr. Schulte und MOWEA Feldtests mit Prototypen in ganz Berlin, unter anderem auf dem Domizil des Startups in der Storkower Straße, einem klassischen Plattenbau aus DDR-Zeiten. Für die Auswahl weiterer Dächer werden sie den Leitfaden für Kleinwindkraftanlagen in der Stadt zu Rate ziehen. Auch er ist im Rahmen eines Forschungsprojekt an der HTW Berlin entstanden. Die bestechende Vision von MOWEA und Prof. Dr. Schulte: Interessierte können die allen baurechtlichen Vorgaben entsprechenden Module einer Kleinwindanlage passend zum eigenen Dach und zu einem günstigen Preis einfach in einem Online-Katalog auswählen und bestellen.
Zusammenarbeit mit dem Tüftler Urs Giger
Soviel zu Kleinwindanlagen in der Stadt. Jetzt zu den Pendants auf hohen Bergen und zum Äquivalent des Berliner Startup MOWEA, dem Schweizer Tüftler Urs Giger. Prof. Dr. Schulte kennt ihn aus einem früheren Projekt, in dem sich die beiden, wenig verwunderlich, mit der Windenergie beschäftigt haben. „Wenn fachliche Kompetenzen und das persönliche Mindset zusammenpassen, dann erhält man die Kooperation aufrecht, auch wenn ein konkreter Mittelgeber noch fehlt“, sagt der bestens vernetzte HTW-Wissenschaftler.
Modulare Anlagen für hohe Berge
In den Bergen ist die Herausforderung eine andere als in der Stadt, doch auch hier kann man die Windenergieanlagen anpassen. Das ist die Spezialität von Urs Giger. Er entwickelt seit vielen Jahren kompakte und zerlegbare Planetengetriebe für Windturbinen. Sein Konzept: Einen großen Generator erstens auf viele kleine Generatoren aufteilen und die ganze Anlage in Gitterturmbauweise auf dem Berg zusammenbauen, was auch die Wartungskosten senkt und den Austausch von defekten Teilen erleichtert. Zweitens nicht nur Multigeneratoren einsetzen, sondern auch Multirotoren und diese sternförmig auf einem Gittermast anordnen.
Die Regelkonzepte müssen passen
Auch in diesem Fall widmet sich Prof. Dr. Schulte dem Gesamtregelkonzept und der „Intelligenz“ der Windenergieanlagen, wie er es ausdrückt. Gemeint ist die Erforschung der Steuerungs- und Regelungsalgorithmen. Für den Betrieb der Anlagen müssen die mechanischen Lasten reduziert werden, die sowohl von Turbulenzen und Böen als auch durch die Rückwirkung des elektrischen Netzes über die Multigeneratoren in die bis zu 250 Meter hohe Gitterstruktur der Turbine eingeleitet werden. Damit die Bauteile auch bei starker Belastung nicht brechen oder das Material ermüdet, gilt es, die modellbasierten Regelungskonzepte, die Prof. Dr. Schulte in den letzten Jahren mit Fachkollegen für Standardturbinen entwickelt hat, an die innovative Bauweise anzupassen.
Genossenschaftsmodelle für höhere Akzeptanz
Im Sommer 2021 soll das Konzept stehen, hofft Prof. Dr. Schulte. Wenn finanziell möglich, wird auch ein kleiner Prototyp gebaut, aus dessen Funktionsweise Rückschlüsse für den großen Multirotor gezogen werden können. Ziel ist es, Risiken und Chancen konkreter zu benennen. Mögliche Standorte für Windräder auf Bergen gebe es genügend. Und wenn Bürger_innen mit klugen Genossenschaftsmodellen wirtschaftlich beteiligt würden, seien die Akzeptanzprobleme mit Sicherheit kleiner.
Die Branche braucht dringend frischen Wind
Einen japanischen Investor hatte Urs Giger schon an der Hand, doch coronabedingt hat die Dynamik der Aktivitäten nachgelassen. Überhaupt sei es nicht einfach, in der Branche Kapitalgeber zu finden. Doch Giger sei gut vernetzt, das wird klappen, ist Prof. Dr. Schulte recht zuversichtlich. „Die neuen Konzepte würden frischen Wind in eine Branche bringen, die dringend gebraucht wird, wenn Deutschland seine Klimaziele bis 2030 erreichen will."