Wirtschaftsinformatik gibt sich Stelldichein in Berlin

Soviel Womanpower war noch nie: Wenn sich vom 11. bis 13. September 2022 Wirtschaftsinformatiker*innen aus deutschsprachigen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ein Stelldichein in Berlin geben, dann zeichnen ausschließlich Professorinnen für die Organisation verantwortlich. Gemeinsam haben Prof. Dr. Birte Malzahn (HTW Berlin), Prof. Dr.  Claudia Lemke (HWR Berlin) und Prof. Dr. Vera Meister (TH Brandenburg) die Jahrestagung des Arbeitskreises Wirtschaftsinformatik (AKWI) auf die Beine gestellt. Im Interview gibt das augenscheinlich perfekt funktionierende Trio einen Einblick in die als Männerdomäne geltende Fachdisziplin und spricht über die Veranstaltung, die zum ersten Mal seit der Corona-Pandemie wieder in Präsenz stattfindet.

Wie laufen die Vorbereitungen?

Prof. Dr. Claudia Lemke: Bestens. Wir mussten keine Hackordnung ausfechten, sondern konnten gleich ins Tagesgeschäft einsteigen. Es ist wirklich bereichernd, in einem ausschließlich weiblichen Team zu arbeiten. An den Hochschulen wurden wir außerdem von unseren Kolleginnen Prof. Dr. Sandy Eggert (HWR Berlin) sowie Prof. Dr. Verena Majuntke und Prof. Dr. Katharina Simbeck (beide HTW Berlin) unterstützt.

Prof. Dr. Birte Malzahn: Unser Fokus liegt in diesem Jahr auf der Sichtbarkeit und Vernetzung speziell von Wirtschaftsinformatikerinnen sowie auf der Förderung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses. Deshalb hatte das Programmkomitee insbesondere Wissenschaftlerinnen aufgefordert, Beiträge einzureichen. Männliche Wirtschaftsinformatiker sind selbstverständlich genauso herzlich willkommen. Für Student Papers galt, dass sie unter weiblicher Beteiligung zustande gekommen sein müssen. Der Rücklauf war gut. Uns liegen rund 50 Papers vor, etwa die Hälfte hat den Review-Prozess erfolgreich bestanden und wird auf der Konferenz präsentiert.

Prof. Dr. Vera Meister: Es waren erfreulicherweise mehr Einreichungen als bei früheren Jahrestagungen und es ging kompetitiver zu. Das thematische Spektrum ist breit und bildet sämtliche aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Trends ab. Künstliche Intelligenz und Data Science sind herausragende Themen, wichtig ist auch das IT-Management. Die Digitalisierung von Prozessen verschwindet niemals von der Agenda, ebensowenig die Entwicklung von Applikationen und Systemen. Die eingereichten Beiträge werfen aber auch ethische Fragen auf und erörtern didaktische Aspekte. Letzteres ist ein neuerer Trend, der sich wohl fortsetzt.

Die Wirtschaftsinformatik gilt als Männerdomäne…

Prof. Dr. Lemke: Es gibt definitiv noch immer viel zu wenige Frauen in der WI. Als ich selbst Wirtschaftswissenschaften studierte, hatte ich viele Kommilitoninnen. Die spätere Spezialisierung auf die Wirtschaftsinformatik war gleichbedeutend mit der Entscheidung für eine männerdominierte Welt. Früher hatte ich diesbezüglich eine dickere Haut, aber meine persönliche Sensibilität für die Kategorie Geschlecht ist im Laufe der Jahre stärker geworden. Denn die Bedeutung der Informationstechnik wächst stetig, sie durchdringt alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn nur Männer programmieren, dann kommt eben auch eine männliche Denkweise heraus. Gerade Algorithmen können Geschlechterrollen verstärken. Deshalb ist es wichtig, die Beteiligung und die Sichtbarkeit von Wirtschaftsinformatikerinnen zu stärken.

Prof. Dr. Malzahn: Als Professorinnen sind wir tatsächlich Role Models. Mädchen suchen Vorbilder, gerade wenn sie älter werden und ihre Entscheidung für ein Studienfach treffen. Der Frauenstudiengang „Informatik und Wirtschaft“ an der HTW Berlin funktioniert in dieser Hinsicht gut. Viele der Studentinnen hätten diese Studienrichtung nicht gewählt, wenn sie nicht als reiner Frauenstudiengang angeboten würde.

Prof. Dr. Lemke: Ein gutes Konzept, stimmt, aber wenn aus Absolventinnen dieses Studiengangs automatisch Wirtschaftsinformatikerinnen würden, dann müssten die Vorstandsetagen bald voll mit HTW-Absolventinnen sein... Das trifft leider nicht zu. Dort geht die Selektion weiter, finden wir den nächsten Gap. Die Wissenschaft muss also unbedingt eine Brücke zur Industrie bauen.

Prof. Dr. Meister: Ich dachte als Mathematikerin auch lange, dass die Kategorie Geschlecht völlig unerheblich ist, musste dann aber feststellen, dass ich als Frau permanent in die exotische Ecke geschoben wurde. Das gilt vor allem für deutschsprachige Länder, überhaupt für westeuropäische Nationen, ändert sich allerdings ein wenig, je weiter man in den Osten und Südosten Europas kommt. Sinnvoll wäre ein eigenes Mentoring-Programm, aber wir haben als Professorinnen schon alle Hände voll zu tun, die Quoten in Berufungskommissionen und Gremien zu erfüllen.

Welchen Stellenwert hat die Wirtschaftsinformatik?

Prof. Dr. Lemke: Manche denken immer noch an eine Art PC-Führerschein, andere halten WI für eine Rocket Science. Beides ist falsch. Richtig ist: Die Wirtschaftsinformatik ist die Schnittstelle zwischen Informatik und Management und in allen Bereichen zu finden, von der Verwaltung bis zur Industrie und überall im Alltagsleben. Es geht um Softwarelösungen, die im Unternehmen professionell gemanagt werden müssen. Dafür braucht man Konzepte und Strategien, mit denen wir uns in dieser interdisziplinären Wissenschaft beschäftigen. Ich sage das bewusst, weil es heutzutage ja viele vermeintliche Expert*innen für Digitalisierung gibt …

Was wird auf der Jahrestagung geboten?

Prof. Dr. Malzahn: Wir starten mit einem Get together am Sonntag. Die meisten Gäste – etwa 60, darunter auch Studierende und Unternehmensvertreter*innen - erwarten wir zur Fachtagung am Montag. Wir konnten auch Sponsor*innen aus der Wirtschaft gewinnen, die sich mit Fachvorträgen beteiligen. Lohnenswert sind auch die kooperativen Beiträge von Hochschulen und Unternehmenspartnern. Einen Hinweis wert ist außerdem unser Track „Prototypen“, der sich sehr gut entwickelt. Den gibt es nun schon zum vierten Mal. Da ist wirklich Entrepreneurship spürbar.

Prof. Dr. Meister: Beim hochschulpolitischen Part am Dienstag geht es um die inhaltliche Weiterentwicklung der Studiengänge. Wir tauschen Erfahrungen aus, denken in Zukunftsszenarien und verständigen uns auch über Positionen in hochschulpolitischen Debatten.

Welche Bedeutung hat die Jahrestagung?

Prof. Dr. Malzahn: Die Veranstaltung ist sehr wichtig für persönliche Begegnungen, für die Vernetzung und den Austausch. Deshalb sind wir alle froh, wieder in Präsenz tagen zu können. Die virtuellen Formate in Pandemiezeiten waren kein wirklicher Ersatz dafür.