Ungleichheit wird nicht länger marginalisiert
Seit mehr als zehn Jahren erinnern die Vereinten Nationen am 20. Februar an soziale Ungerechtigkeit und rufen zu ihrer Überwindung auf. Dieses Mal im Fokus: informelle Beschäftigungsverhältnisse. In selbigen verdienen zwei Millionen Männer, Frauen und Jugendliche oder mehr als 60 Prozent der Erwerbstätigen ihren Lebensunterhalt, die meisten von ihnen in Schwellen- und Entwicklungsländern. Die Pandemie hat ein scharfes Licht auf die Verletzlichkeit dieser Menschen geworfen. Wo die Probleme liegen, erklärt der Volkswirt Prof. Dr. Dimitrios Zikos im Interview. Hoffnung macht ihm, dass soziale (Un-)Gerechtigkeit nicht länger als marginalisiertes Thema betrachtet wird. Prof. Dr. Zikos hat jahrelang in Entwicklungskontexten geforscht. Seit 2019 lehrt er an der HTW Berlin.
Bitte definieren Sie soziale Gerechtigkeit!
Prof. Dr. Zikos: Soziale Gerechtigkeit bedeutet eine gerechte Verteilung von Wohlstand, Chancen und Privilegien. Dabei geht es vorrangig um die Beseitigung von Armut, um Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit, um die Gleichstellung der Geschlechter und den Zugang zu sozialem Well-Being. Das Thema betrifft also Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt gleichermaßen.
Ich persönlich finde interessant, dass ein langsamer, aber erkennbarer Wandel in der Perspektive der internationalen Organisationen stattfindet. Soziale (Un-)Gerechtigkeit wird nicht länger als marginalisiertes Thema von eher politischem oder wissenschaftlichem Interesse betrachtet. Nehmen Sie die Globale Aktion "Promoting Social and Solidarity Economy Ecosystems" der OECD, die Koalition der "Platform for Accelerating the Circular Economy“ und viele andere Initiativen. Sie alle rücken den Umgang mit sozialen, wirtschaftlichen, generationenübergreifenden und geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeiten in den Mittelpunkt.
Wo steht die Welt im Jahr 2022?
Die globale Situation ist nicht gut. Eine Reihe von Reports zeigen deutlich, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit in den letzten Jahren dramatisch zugenommen haben. Der aktuelle Report der International Labour Organisation belegt, dass das wirtschaftliche, finanzielle und soziale Gefüge während der Pandemie in fast allen Ländern erheblich gelitten hat. Die in den letzten Monaten des Jahres 2021 zu beobachtende langsame Erholung ist sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder ungleich verteilt, was zu einer wachsenden Kluft zwischen den Armen und den Reichen führt.
Der kürzlich veröffentlichte Report der Credit Suisse zeigt, dass die Zahl der Millionäre im ersten Coronajahr um 5,2 Millionen gestiegen ist. Inzwischen besitzen die obersten fünf Prozent der Bevölkerung in der Regel mehr als 50 Prozent des Wohlstands eines Landes. Auf gerade einmal 0,1 Prozent der Bevölkerung entfällt ein höherer Anteil am Welteinkommen als auf die unteren 50 Prozent.
Wo geht es besonders ungerecht zu?
Die Auswirkungen der Pandemie waren besonders katastrophal für die Entwicklungsländer. Denn dort findet man ein höheres Maß an Ungleichheit, heterogenere Arbeitsbedingungen, schwächere Sozialversicherungssysteme und einen begrenzten fiskalischen Spielraum. Die Chancen dieser Länder auf eine wirtschaftliche Erholung sind weitaus schlechter als die der reichen Länder. Trotz vieler Maßnahmen und heroischer, freiwilliger Initiativen zur Krisenbewältigung war die politische Reaktion auf die Pandemie in den Entwicklungsländern wegen fiskalischer Restriktionen mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Vor allem die informelle Wirtschaft schränkt die Effizienz vieler politischer Instrumente ein, weil diese oft nur auf formelle Arbeitnehmer und Unternehmen zielen.
Informelle Beschäftigung ist leider eine attraktive Option angesichts von hoher Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung, Armut, geschlechtsspezifischer Ungleichheit und prekären Arbeitsverhältnissen. Denn informelle Beschäftigung erleichtert den Zugang zum Arbeitsmarkt, ist flexibel und stellt geringe Anforderungen an Bildung, Qualifikation, Technologie und Kapital. Die Pandemie hat die Informalisierung der Beschäftigung weiter vorangetrieben.
Sehen Sie auch positive Veränderungen?
Oh ja! Bis vor kurzem galt es als ein ziemlich radikaler wirtschaftlicher Ansatz, die Wirtschaft umstrukturieren zu wollen, um soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen. Jetzt hat dieser Ansatz seinen Platz in der Mainstream-Ökonomie und in den politischen Agenden der Welt gefunden. Mythen, die lange Zeit den Diskurs beherrschten – niedrige Steuern als Anreiz für wirtschaftliche Aktivitäten und Investitionen, die angeblich störende Rolle des Staates in einer freien Marktwirtschaft usw. -, werden nun entweder abgelehnt oder ernsthaft in Frage gestellt.
Es bleibt zwar noch viel zu tun, aber zumindest ist die Diskussion eröffnet! Nicht zu vergessen, dass Themen, die bis vor kurzem noch als unantastbar galten, jetzt höchste Priorität haben: die Besteuerung multinationaler Firmen, die Erhöhung der Steuersätze für sehr Reiche, die Kontrolle der Sklavenarbeit in den Sweatshops in Asien, Afrika und Lateinamerika. Die Vereinbarung der OECD und der G20, die sicherstellt, dass multinationale Unternehmen ab 2023 einem Mindeststeuersatz von 15 Prozent unterliegen, ist bahnbrechend. Die sich daraus ergebenden Staatseinnahmen könnten vielen Ländern erheblich dabei helfen, einen Teufelskreis zu durchbrechen und ihre Sozialleistungen und ihre finanzielle Gesamtsituation zu verbessern.
Haben Sie also Hoffnung für die Zukunft?
Natürlich, sonst würde ich nicht an Entwicklungsthemen arbeiten! Hoffnung machen mir Dutzende von Beispielen in der ganzen Welt. Interessanterweise geht der Anstoß nicht allein von den Opfern der Ungerechtigkeit oder von internationalen Nichtregierungsorganisationen und Aktivist_innen aus. Wie schon erwähnt, wird soziale Gerechtigkeit zu einem Thema in der Wissenschaft, in der Politik und sogar zu einem Anliegen des privaten Sektors und der traditionell profitorientierten Unternehmen.
Meines Erachtens wird es zu einem Wandel kommen. Die Frage ist, ob Wissenschaftler_innen und politische Entscheidungsträger_innen in der Lage sein werden, einen solchen Wandel zu leiten, oder ob sie versagen werden und der Wandel spontan und unkontrolliert erfolgen wird.