„Kein Wachstum ist auch keine Lösung“

Um die rasant fortschreitende Erderwärmung halbwegs in den Griff zu bekommen, müssten die Treibhausgase weltweit so schnell wie möglich auf Null sinken. Das bestreitet kaum noch jemand. Uneinigkeit herrscht aber selbst unter Wissenschaftler*innen darüber, wie die Reduktion der Emissionen zu erreichen wäre. Muss die Wirtschaft dafür schrumpfen? Oder sollte sie ganz im Gegenteil wachsen, damit ökologisch sinnvolle Investitionen überhaupt getätigt werden können? Prof. Dr. Fabian Lindner hat sich intensiv mit den verschiedenen Ansätzen beschäftigt. Denn das Thema liegt dem Experten für Volkswirtschaftslehre und politische Ökonomie im Fachbereich 3 am Herzen. Im Interview erläutert er die Positionen, die sich gegenüberstehen, und geht auf die Folgen ein, die damit jeweils verbunden wären.

Vorneweg: Wie hängen Treibhausgase und Wirtschaftswachstum zusammen?

Prof. Dr. Fabian Lindner: Sie sind eng miteinander verknüpft. Unsere Wirtschaft verbraucht Energie für alle Waren und Dienstleistungen, die sie erzeugt. Weil das Gros der Energieträger fossil ist – auf der globalen Ebene sind das über 80 Prozent -, entstehen Treibhausgase (THG). Wirtschaft und THG-Ausstoß wuchsen jahrzehntelang parallel. In Deutschland und vielen anderen Industriestaaten hat sich das in den 1990er und frühen 2000er Jahren zwar geändert, weil die Produktion energieeffizienter wurde und zuletzt auch klimaneutrale Technologien zum Einsatz kamen. Deshalb gehen die THG-Emissionen in diesen Ländern zurück, obwohl ihre Wirtschaft wächst. Doch der Rückgang verläuft erstens nicht schnell genug, um die vereinbarten Klimaziele zu erreichen. Zweitens steigern große, aufstrebende Länder wie China und Indien ihre Emissionen. China ist mittlerweile das Land mit den höchsten THG-Emissionen, Indien liegt auf Platz 3. Global betrachtet erreichten die Emissionen deshalb zuletzt wieder einen Rekordwert.

Welche Vorschläge für die Senkung der Emissionen gibt es?

Man kann ganz grob zwei Positionen unterscheiden. Die einen argumentieren, dass unsere Wirtschaft zwingend schrumpfen muss, damit der THG-Ausstoß endlich sinkt. Er sollte sich ja möglichst schnell in Richtung Null bewegen. Das ist der Degrowth-Ansatz. Die anderen sind überzeugt, dass ein grünes Wachstum möglich ist, deshalb die Bezeichnung Green Growth. Grünes Wachstum bedeutet: Die Wirtschaft darf weiterwachsen, ihre THG-Emissionen müssten aber durch den massiven Einsatz klimaneutraler Technologien gesenkt werden.

Wie muss man sich Degrowth genau vorstellen?

Degrowth ist ein ziemlich radikaler Ansatz. Für viele sicher viel zu radikal, denn dahinter steckt oft eine ganz generelle Kapitalismuskritik. Doch ich bin ganz unvoreingenommen rangegangen, weil ich persönlich durchaus Sympathie für einige Grundannahmen empfinde. Warum beispielsweise sollte die Wirtschaft unaufhörlich wachsen? Das darf und muss kritisch hinterfragt werden.

Spielen wir das Szenario einfach mal durch, wobei der Degrowth-Ansatz natürlich deutlich komplexer ist, als ich hier darstellen kann: Um die THG-Emissionen zu senken, müssten Unternehmen die Produktion deutlich reduzieren oder sogar ganz einstellen, weniger Dienstleistungen erbracht werden, nicht mehr so viel Reisen stattfinden etc. etc. Vorausgesetzt, das gelingt – woran man aus vielen Gründen zweifeln kann -, wie sähen die konkreten Folgen aus? Die Arbeitslosigkeit würde steigen und es käme zu Einkommensverlusten. Wer sehr viel verdient, kann sich damit vielleicht arrangieren. Doch für die meisten Menschen hätte eine schrumpfende Wirtschaft gravierende Konsequenzen. Ihre Lebensqualität würde stark beeinträchtigt.

Wenn solche Verschlechterungen auf eine Rezession zurückzuführen sind, mag das wie eine Naturkatastrophe daherkommen, der man sich fügt. Doch wenn sie politisch gewollt und verursacht sind, dann entstehen enorme gesellschaftliche Spannungen und Verwerfungen. Wir haben das ja schon bei Entscheidungen mit geringfügigeren Folgen erlebt, denken Sie an die Turbulenzen rund um das Gebäudeenergiegesetz. 

Die Befürworter*innen des Degrowth-Ansatzes ignorieren solche Probleme leider, wie ich feststellen musste. Sie denken zu wenig über diese Verteilungskämpfe nach und haben dann auch keine Konzepte, wie sie zu bewältigen wären. Nein, Degrowth ist keine Antwort auf den Klimawandel.

Dann lassen Sie uns über grünes Wachstum sprechen.

Gerne. Zur Erinnerung: Grünes Wachstum oder Green Growth bedeutet, dass die Wirtschaft wächst, ihre THG-Emissionen aber durch den Einsatz von klimaneutralen Technologien sinken Entsprechende Technologien gibt es ja bzw. sie befinden sich in der Entwicklung. Und wie schon gesagt: Wir können dieses Grüne Wachstum in Deutschland und vielen Ländern bereits sehen. Bei diesem Konzept stellt sich allerdings die Frage, ob die Umstellung hinreichend schnell gelingt bzw. der Einsatz fossiler Energieträger nicht nur in einigen Ländern abgebaut wird, sondern weltweit. Das setzt übrigens nicht nur den politischen Willen voraus, sondern auch hohe Investitionen. Die USA machen es gerade mit dem sogenannten „Inflation Reduction Act“ vor, mit dem sie ein 738 Milliarden Dollar schweres Investitionsprogramm aufgelegt haben, unter anderem für Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und einer Neuausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaft auf erneuerbare Energien. Auch China verfolgt übrigens diese Politik. Das Land ist nämlich nicht nur der größte Emittent von Treibhausgasen, sondern gleichzeitig der größte Investor, indem es klimaneutrale Technologien massiv subventioniert, seien es Solaranlagen, Windparks oder Elektrobatterien.

Das erzeugt in Europa und speziell in Deutschland einen großen Wettbewerbsdruck. Hier setzt man mit dem CO2-Preis auf die Verteuerung der fossilen Energien, in der Hoffnung, dadurch Investitionen in klimafreundliche Alternativen attraktiver zu machen.

Welche Strategie halten Sie selbst für zielführend?

Kennen Sie den Titel einer meiner jüngsten Aufsätze? Er lautete „Kein Wachstum ist auch keine Lösung“. Zu dieser Überzeugung bin ich nämlich gekommen. Degrowth klingt romantisch, ist es aber nicht. Ich glaube, wir müssen unseren ganzen Gehirnschmalz auf die Ausgestaltung des Grünen Wachstums richten. Wir müssen mit Hochdruck daran arbeiten, die Entwicklung von klimaneutralen Technologien voranzutreiben und sie zu verbilligen. Das ist der beste Weg, Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Der ist schwierig genug. Doch gehen kann ihn nur eine Wirtschaft, die investiert und wächst. Europa muss der amerikanischen und chinesischen Industriepolitik etwas entgegensetzen. Sonst droht insbesondere Deutschland eine Deindustrialisierung und ein auch politisch sehr unschönes Degrowth.