Crash-Tests für Szenarien aus dem echten Leben
Es gibt nicht immer Anlass zur Freude, wenn man als Wissenschaftler von einer großen Medienwelle überspült wird. Als dies Prof. Dr. Darius Friedemann im Oktober 2024 passierte, empfand er späte Genugtuung. Endlich waren seine massiven Bedenken gegenüber Befestigungshilfen für Kindersitze und Babyschalen aus dem Internet, sogenannten Isofix-Universaladaptern, zu einem öffentlichen Thema geworden. Das Kraftfahrt-Bundesamt sprach eine Warnung vor den Nachrüstsets aus. Die Begründung: „Sie bieten keinen sicheren Halt, was im Falle eines Unfalls zu einer deutlich erhöhten Verletzungsgefahr führe.“ Dabei stützte sich die Behörde auf die Erkenntnisse von Crash-Tests, die der Experte für Verkehrssicherheit im Studiengang Fahrzeugtechnik der HTW Berlin angestellt hatte.
Vollmundige Versprechungen im Internet
Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, auch in Medien jenseits der Kfz-Szene. „Über die große mediale Resonanz war ich richtig froh“, blickt Prof. Dr. Friedemann zurück. Denn der Ingenieurwissenschaftler wusste schon seit zwei Jahren, dass die Haltebügel für Kindersitze, die unter der Bezeichnung „ISOFIX-Nachrüstset“ im Internet zu finden waren, das vollmundige Versprechen nicht einlösen, das auf den Webseiten gegeben wird. „Hält bombenfest“, hieß es da beim Topseller, der 4,3 Sterne bei 904 Bewertungen hatte. Doch das entsprach nicht den Tatsachen. Worum geht es genau und wie wurde der Experte für Verkehrssicherheit auf das Problem aufmerksam?
Doch was taugen die Nachrüstsets?
Prof. Dr. Friedemann führt jedes Jahr einen Crashtest vor großem Publikum durch. Anders als sein Vorgänger, der mit Fahrzeuganhängern experimentierte, hat er dabei vor allem die Sicherheit der Insassen im Blick. „Es geht um Real-Life-Szenarien, die bei den genormten Tests nicht berücksichtigt werden“, erklärt er sein Erkenntnisinteresse. Deshalb griff er die Frage aus dem Freundeskreis, in dem sich Nachwuchs ankündigte, gerne auf: Ob man ein älteres Cabrio, das hinten über keine Sicherheitsgurte verfügt, guten Gewissens mit Isofix-Universaladaptern nachrüsten und damit den Kindersitz befestigen könne?
Geschickte Wortwahl suggeriert Sicherheit
Solche Nachrüstsätze wurden im Internet von mehreren Herstellern und Händlern preiswert angeboten, beispielsweise als „Universelles Montageset für ISOFIX-Gurtverbinder“. „Die Produktnamen suggerieren genormte Sicherheit“, sagt Prof. Dr. Friedemann. Dabei sei keines der von ihm getesteten Sets tatsächlich zertifiziert gewesen; auch habe keines die strengen Vorgaben der ISO-Norm 13216 erfüllt, die für „echte“ ISOFIX Systeme vorschrieben ist. Streng genommen dürften die Nachrüstsätze gar nicht unter den besagten Bezeichnungen vertrieben werden. Doch die Wortwahl sei zu geschickt, als dass sich juristisch eine Handhabe böte.
Etwa 200.000 Fahrzeuge auf europäischen Straßen
In Eigenregie nachgerüstet werden nicht nur ältere Autos, sondern auch umgebaute VW-Busse, Wohnmobile oder Beifahrersitze. Etwa 200.000 Fahrzeuge dürften damit in Europa herumfahren“, schätzt Prof. Dr. Friedemann. „Wenn ich keine Ahnung von der Materie hätte, würde ich vermutlich auch denken, das ist ein tolles System, das ich selbst einbauen kann, statt für viel Geld eine Autowerkstatt zu beauftragen“, sagt der Ingenieurwissenschaftler. Übrigens: Wer ein neueres Auto besitzt, muss sich mit der Frage gar nicht herumschlagen. Seit November 2014 ist der werksseitige Einbau von ISOFIX-Haltebügeln seitens der Hersteller Pflicht.
Schon die ersten Zugversuche waren verheerend
Zurück zu den Tests der HTW Berlin. „Schon die ersten Resultate unserer Zugversuche in unserem Fahrzeugtechnik-Labor waren verheerend“, erinnert sich Prof. Dr. Friedemann. Egal welchen Kindersitz sie mit welchem Montageset verbanden: Keine Kombination vermochte zu überzeugen, selbst bei geringen Prüfkräften. Immer rutschte der Sitz nach vorne, statt „bombenfest“ zu halten. Kein gutes Zeichen für die späteren Crash-Tests, bei dem echte Unfälle simuliert werden und viel dynamischere Kräfte auftreten. Für die Tests mietet sich der Studiengang jedes Jahr auf einer Crashbahn in Berlin ein. Auch Gäste werden eingeladen, Schulklassen beispielsweise und Unfallgutachter. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung genügt. Meistens sind die Tickets schnell vergriffen.
Bei den Crash-Tests lösten sich die Kindersitze
Für die Crash-Tests wurde die Halterung nach Herstellerangaben im Fahrzeug verbaut. 250 Gäste verfolgten aufmerksam, was dann passierte: Die nachgerüsteten Haltebügel lösten sich bei dem Aufprall sofort. Die daran befestigten Kindersitze wurden durch den Fahrzeugraum geschleudert. Ein Kind wäre bei einem solchen Unfall lebensbedrohlich verletzt worden. Von Sicherheit und bombenfestem Halt konnte also keine Rede sein. Prof. Dr. Friedemann veröffentlichte seine Erkenntnisse in der Zeitschrift VKU, einem Fachmagazin von Springer Professional für Verkehrsunfall und Fahrzeugsicherheit. „Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn die Systeme sofort vom Markt verbannt worden wären“, sagt er.
Zwei Jahre verstrichen bis zur behördlichen Warnung
Doch ein generelles Verkaufsverbot war juristisch kompliziert und ein Grenzfall, wie der HTW-Wissenschaftler in Gesprächen mit dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) erfuhr, das sich nach der Veröffentlichung bei ihm meldete. Es vergingen noch zwei Jahre, bis die Behörde eine Warnung vor Universal-Isofix-Adaptern aus dem Internet aussprechen konnte. Im Oktober 2024 tat sie es schließlich. „Kindersitze dürfen ausschließlich mit den fahrzeugeigenen geprüften und genehmigten Isofix-Aufnahmepunkten verbunden werden“, hieß es darin. Das sei bei Universal-Isofix-Adaptern aus dem Online-Handel nicht gegeben und berge eine ernste Gefahr für das Kind.
Der Verkauf nähert sich dem Ende
Ein kleiner Erfolg für den Ingenieurwissenschaftler der HTW Berlin. Dass die Systeme zunächst weiterhin legal im Internet verkauft werden durften, hat juristische Gründe. Das KBA musste jedem einzelnen Händler die Möglichkeit zur Stellungnahme geben und hierbei gesetzliche Fristen einhalten. Inzwischen haben alle Händler mit einer Ausnahme den Verkauf eingestellt, zumindest in Deutschland. In allen anderen europäischen Ländern sind die Sets allerdings noch erhältlich. Auch die bereits verkauften Systeme sind natürlich noch auf dem Markt. Die Empfehlung von Prof. Dr. Friedemann an alle Autofahrer*innen, die mit Kindern reisen: "Idealerweise verwenden Sie serienmäßig verbaute ISOFIX-Systeme oder lassen sich durch eine Fachwerkstatt ein zertifiziertes ISOFIX-System nachrüsten. Solche Systeme gibt es für viele Fahrzeugtypen im Fachhandel. Wenn beides nicht geht, müssen Sie einen Kindersitz verwenden, der durch den Fahrzeuggurt gesichert wird."
Der nächste Crash-Test ist schon in Planung
Und was steht bei den nächsten Crash-Tests auf der Agenda? An Ideen mangelt es dem Experten für Fahrzeugsicherheit und Unfallforschung, der gerade in den Deutschen Verkehrssicherheitsrat berufen wurde, nicht. „Ich berate mich nicht nur mit dem Expertenkreis aus der Unfallforschung, sondern auch regelmäßig mit meinen Studierenden und ermuntere sie, Themen und Herausforderung an mich heranzutragen“, sagt er. Was er 2025 machen möchte, weiß Prof. Dr. Friedemann schon. Er wird einen Werkstattwagen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und einen Rettungswagen der Berliner Feuerwehr aufeinanderprallen lassen. Mit beiden Einrichtungen unterhält der Ingenieurwissenschaftler eine Kooperation. Relevant ist der Versuch insofern, als dass der Werkstattwagen der BVG einen großen Laderaum mit Stahlregalen voller Werkzeug hat und man herausfinden will, ob sie hinreichend gut befestigt sind.