Hilfe, meine Marke braucht einen Purpose

Prof. Dr. Andreas Baetzgen, Professor für Wirtschaftskommunikation, hat gerade ein neues Handbuch zum Thema Brand Purpose herausgegeben. Im Interview gibt er Einblicke in das Thema, das Start-Ups, Mittelstand und Großkonzerne gleichermaßen betrifft.

Wie sinnvoll ist Sinn: Braucht jede Marke einen „Purpose“?

Prof. Dr. Andreas Baetzgen: Es ist wichtig, dass eine Organisation weiß, wofür sie steht und welchen Beitrag sie für die Gesellschaft leisten möchte. Das Weltgeschehen wird immer mehr bestimmt von humanitären, sozialen und ökologischen Konflikten, die ohne das Zutun von Unternehmen schlichtweg nicht zu lösen sind. Globale Konzerne wie Amazon, Facebook oder Pfizer sind mächtiger als die meisten Staaten. Sie bestimmen über unser Leben und Zusammenleben, etwa was wir essen, wie wir kommunizieren, uns kleiden oder wie wir uns vor Krankheiten schützen können. Ein Purpose kann Unternehmen helfen, Position zu beziehen. Denn nur wenn ein Unternehmen weiß, wofür es eintreten möchte, kann es seine Ressourcen und Kompetenzen sinnvoll für die Gesellschaft einsetzen. Keine moderne Strategieentwicklung kann deshalb heute das Thema Purpose ignorieren. Unternehmen und Marken mit einem klar kommunizierten Purpose haben das Potenzial, überdurchschnittlich zu wachsen und innovativer sowie produktiver als der Wettbewerb zu agieren. 

Birgt der Purpose-Hype nicht die Gefahr des Etikettenschwindels? Auf der Welle der Nachhaltigkeit reiten gerade sehr viele Marken vom Kleider-Discounter bis zum Kapsel-Kaffee.

Die Gefahr, dass ein Purpose nur Pose ist, besteht. Tatsächlich klingen viele Purpose-Statements zu schön, um wahr zu sein. Dennoch sehe ich das Positive: Wenn moralische Maßstäbe für Märkte wichtiger werden, setzt das die Handelnden unter Zugzwang. Großspurigen Reden müssen früher oder später Taten folgen, ansonsten platzt die Purpose-Blase. Ein Purpose ist eben nicht eine demonstrative Zurschaustellung des eigenen Gut-Seins, sondern die Selbstverpflichtung eines Unternehmens, seiner Verantwortung gegenüber Mensch und Natur nachzukommen. 

Wie kommt meine Marke zum Purpose? Welchen Rat können Sie Marketing-Verantwortlichen geben, die auf Sinnsuche sind?

Ein Purpose lässt sich nicht erfinden. Er muss aus dem Selbstverständnis und den Überzeugungen eines Unternehmens erwachsen. Auch wenn ich in meinem Buch von Brand Purpose spreche, sehe hier weniger das Marketing in der Verantwortung, sondern die Unternehmensführung, denn ein Purpose betrifft sämtliche Geschäftsbereiche eines Unternehmens. Dies gilt auch für die Aktivitäten auf dem Finanz- und Personalmarkt. Auch hier ist die Sinnsuche groß.

Ist der Purpose dann eigentlich Chefsache?

Ja, ein Purpose ist definitiv Chefsache. Letztlich sind aber alle Mitarbeitenden einzubeziehen, egal ob Sachbearbeiter oder Spitzenmanagerin. Sie alle sollten an der Entwicklung und Umsetzung eines Purpose beteiligt werden. Der CEO spielt hierbei aber eine Schlüsselrolle. Ein Purpose braucht Persönlichkeiten, die an die Sache glauben und den Purpose mit Überzeugung vorleben. Unternehmer- und Gründerpersönlichkeiten sind hier im Vorteil gegenüber angestellten Managern, weil sie das Unternehmen im Kern verkörpern und von der ersten Minute an geprägt haben. Sie sind gewissermaßen der Purpose in Person.

Meine Marke macht die Welt ein Stückchen besser. Aber für wen eigentlich? Und kaufen Menschen deswegen meine Produkte?

Jedes Unternehmen steht vor der Frage für wen und was es einen positiven Beitrag in der Welt leisten kann und will. Meist ergibt sich dieser Beitrag aus der Kernkompetenz eines Unternehmens. Ein Wohnungsbauunternehmen beispielsweise kann für mehr bezahlbaren Lebensraum sorgen. Ein Nahrungsmittelkonzern kann helfen, dass sich mehr Menschen in der Welt gesund ernähren. Nicht jedes Unternehmen kann und muss die Welt retten. Wenn das Geschäftsmodell eines Unternehmens beispielsweise darin besteht, Donuts zu verkaufen, dann werden sie damit nicht Großes bewirken. Aber vielleicht machen sie damit Menschen für einen kurzen Moment glücklich. Und vielleicht machen sie es liebevoller und nachhaltiger als der Wettbewerb. Einen Purpose zu haben, heißt ja nicht, dass alles moralisch wird. Ein Purpose kann auch Spaß machen.

Wie kann das Wertebekenntnis des Purpose nachhaltig für die verschiedenen Stakeholder eines Unternehmens funktionieren?

Meine Erfahrung ist, dass der Erfolg eines Purpose vor allem davon abhängt, inwieweit es gelingt, diesen in den Markt und die Organisation zu vermitteln. Es ist leicht, einen Purpose aufzuschreiben. Aber es ist ungleich schwerer, diesen zum Maßstab seines Handelns zu machen. Nehmen Sie das Beispiel Henkel. Das Unternehmen stellte erst am 19.4., also 54 Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine, seine Geschäfte in Russland auf politischen und öffentlichen Druck hin ein. Dieses lange Zögern lässt sich mit dem Purpose des Unternehmens nicht vereinbaren ("pioneers at heart for the good of generations"). Unternehmen müssen ihren Purpose ernst nehmen, ansonsten scheitern sie an ihren eigenen Maßstäben.

In gewisser Weise ist auch jeder Mensch eine Marke. Was kann ich aus der Brand Purpose Diskussion für mein Selbstmarketing ziehen?

Es geht auch hier weniger um Selbstmarketing, sondern zunächst einmal um Selbstfindung. Genauso wie ein Unternehmen kann und sollte sich jeder Mensch die Frage nach dem Sinn stellen. Wir alle suchen in unserem Privat- und Berufsleben nach Sinn. Manche suchen diesen beim Yoga, andere auf Reisen oder in einer 60-Stunden-Arbeitswoche. Es ist nicht einfach, mit seinem Leben etwas Sinnvolles anzufangen, wenn man immer mehr Möglichkeiten hat, gleichzeitig aber auch die Erwartungen steigen, etwas aus sich und seinem Leben zu machen. Wir haben unlängst unseren Studierenden im Studiengang Wirtschaftskommunikation ein Wochenend-Workshop angeboten, um über ihren persönlichen Purpose nachzudenken. Ich denke, dass Hochschulen noch sehr viel mehr machen können, um ihre Studierenden bei der Sinnsuche und der Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses zu unterstützen. Erst wenn ein Mensch in dieser Frage selbst für sich Klarheit gefunden hat, kann er dazu beitragen, dass auch Unternehmen sinnstiftend für die Gesellschaft wirken.