Das Kraftwerk wird dynamisch und virtuell

Dass Sonne, Wind und Wasser die Energiequellen der Zukunft sind, wohingegen Kraftwerke, die mit Kohle und Gas arbeiten, sukzessive verschwinden werden, wissen wir alle. Weniger bekannt ist, dass das Energieversorgungssystem erst einmal umgebaut werden muss, wenn dezentral eingespeiste Erneuerbare Energien (EE) die konventionelle Energieerzeugung nicht nur ergänzen, wie derzeit der Fall, sondern schrittweise ablösen. Dieser Transformationsprozess beschäftigt vier Ingenieurwissenschaftler der HTW Berlin in ihrer Forschung.

Zehn Partner in vier europäischen Ländern

Der besagte Umbau ist alles andere als trivial, was man auch daran erkennen kann, dass Prof. Dr. Horst Schulte, seine wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Stephan Kusche, Florian Pöschke sowie Prof. Dr. Jens Fortmann, Prof. Dr. Norbert Klaes und Prof. Dr. Jochen Twele im Projekt „POSYTYF“ mit zehn Partnern aus vier EU-Ländern zusammenarbeiten und das Projekt von der Europäischen Kommission gefördert wird. „Wir müssen bei der Energieversorgung in europäischen Dimensionen denken“, sagt Prof. Dr. Horst Schulte. Schließlich kann im Süden mehr Sonnenenergie gewonnen und im Norden mehr Windenergie erzeugt werden.

Auch Millisekunden zählen

Denn egal, wo die Energie erzeugt und an welchem Ort sie eingespeist wird - die Stromversorgung muss stabil sein, sprich: eine konstante Frequenz von 50 Hertz aufweisen sowie eine gleichbleibende Spannung. Sie darf nicht einmal für einige Millisekunden unterbrochen werden – was einleuchtet, denkt man an elektronisch gesteuerte Hochgeschwindigkeitszüge, an Operationen in Kliniken, Fahrten im Fahrstuhl oder Dienstleistungen großer Rechenzentren, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der Strom muß gleichmäßig fließen

Diese Stabilität zu gewährleisten ist eine Herausforderung. Die rund 30 konventionellen Großkraftwerke, die gegenwärtig allein in Deutschland auf der Grundlage von Kohle, Gas oder Atomstrom Energie erzeugen, vermögen mit robusten Synchronmaschinen auch große Schwankungen zu kompensieren. Erneuerbare Energien hingegen fluktuieren und speisen Energie mittels empfindlicher Leistungselektronik in das Netz ein. Mal scheint die Sonne, mal scheint sie nicht, auf heftigen Wind folgt eine Flaute, ein umgestürzter Baum kann ein ganzes Teilnetz lahmlegen. Doch der Strom muss gleichmäßig fließen.

Das virtuelle und dynamische Kraftwerk

Die Lösung: das dynamische und virtuelle Kraftwerk. „Dabei handelt es sich um eine ausgetüftelte Regelstrategie, die in der Lage ist, ein Portfolio von Frequenz- und spannungsvariablen Strom- und Spannungsquellen zu bilden und die Ressourcen bei meteorologischen und systembedingten Schwankungen optimal umzudisponieren“, erklärt Prof. Dr. Horst Schulte. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn Windpark A meldet, dass keine zusätzliche Energie produziert werden kann, muss ohne Verzug beispielsweise eine große Biogasanlage einspringen.

Zehn Partner aus vier Ländern

Die Details der Regelstrategie werden bis Mai 2023 im Projekt POSYTYF entwickelt - das Akronym steht für POwering SYstem flexibiliTY in the Future through RES -, und zwar auf der Grundlage von komplexen Methoden und mathematischen Modellen. Zehn Partner in Deutschland, Spanien, Frankreich und der Schweiz teilen sich die Arbeit. Mit von der Partie sind vier Hochschulen sowie Industriepartner, beispielsweise die auf die Steuerung von Kraftwerken spezialisierte Bachmann Electronic GmbH sowie der französische Übertragungsnetzbetreiber Reseau de Transport d'Electricite (RTE).

Die einheitliche Schnittstelle existiert bereits

Das HTW-Team hat schon einen wichtigen Meilenstein erreicht, ist Prof. Dr. Schulte zufrieden. Weil man Erneuerbare Energien nicht einfach über einen Kamm scheren kann – Photovoltaik-Systeme, Windenergieanlagen, Solarthermische Anlagen, Wasserkraft und Biogas unterscheiden sich in Verhalten, sogenannter Ansprechzeit und Technologie - wurden sie als Erzeugungseinheiten unterteilt, separate Strategien modelliert, die Schnittstelle aber vereinheitlicht.

Realistische Szenarien für Teilnetze stehen

Die Wissenschaftler der Universitat Politechnica de Catalunya in Barcelona steuerten den zweiten Meilenstein bei: realistische Szenarien für Teilnetze, und zwar beispielhaft für die Kanaren, die Atlantikküste und die Nordsee inklusive Süd-Skandinavien. Denn obwohl es sich um virtuelle, also ortsunabhängige Kraftwerke handelt, werden immer die Energien kombiniert, die in der jeweiligen Region besonders ertragreich sind. Zusammengehalten werden die verschiedenen Kraftwerkstypen über die schon erwähnte einheitliche Schnittstelle. Im Ergebnis können die beiden entscheidenden Dimensionen – einerseits die Leistung bzw. Frequenz, andererseits die Spannung - jederzeit flexibel gesteuert werden. Die deutsch-spanischen Erkenntnisse wird man 2022 gemeinsam auf einer Konferenz vorstellen und veröffentlichen.

Wichtiger Industriepartner in Bochum

Für das HTW-Team nicht minder wichtig ist die Kooperation mit der auf die Steuerung von Kraftwerken spezialisierten österreichischen Bachmann Electronic GmbH, genauer gesagt: deren in Bochum ansässigen Entwicklungsabteilung. Das Unternehmen verfügt über großes Know how bei der Steuerung von Hybridkraftwerken mit regenerativen Energien, die Prof. Dr. Schulte als eine Art Vorstufe für die dynamischen, virtuellen Kraftwerke bezeichnet. Deren Smart Power Plant Controller wurde in den 300 Quadratmeter großen, hochschuleigenen Prüfstand integriert, der sich in dem fensterlosen Klinkerbau zwischen Waschbar und Gebäude G auf dem Campus Wilhelminenhof „versteckt“. Dort werden die Simulationen fortlaufend getestet. 

Bis 2023 will man die Ziele erreicht haben

Prof. Dr. Schulte ist zuversichtlich, dass die Projektziele bis 2023 erreicht werden. Schließlich sei man ein eingespieltes Team und beginne man nicht bei Null, sondern habe sich mit der Materie im Vorgängerprojekt „Windkraftwerk“ bereits intensiv beschäftigt. Dafür gab es 2019 den Forschungspreis der HTW Berlin.

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