Die App findet das richtige Ersatzteil

Wenn bei Eiseskälte die Pumpe einer Krankenhausheizung ausfällt, die Produktionsanlage eines Industriebetriebs zum Stillstand kommt oder ein öffentlicher Fahrstuhl hängen bleibt, ist Eile geboten. Dann muss in Windeseile ein Servicetechniker ran, der dem Problem auf die Spur kommt, das defekte Teil identifiziert und durch ein neues ersetzt. Soweit die Theorie des Außeneinsatzes. In der Praxis kann das kaputte Teil stark verschmutzt, abgenutzt oder so kompliziert verbaut sein, dass der Mechaniker nur die Umrisse erkennt; manchmal lässt sich die Artikelnummer nicht ad hoc ermitteln oder die Anlagendokumentation, in welcher der Hersteller des dringend benötigten Ersatzteils verzeichnet ist, fehlt bzw. ist nicht auf dem aktuellen Stand. Was dann?

Auf einer spannenden Forschungsreise...

Dieses Problem lässt sich mit Technologien des 21. Jahrhundert in den Griff bekommen, sagt der Ingenieurinformatiker Prof. Dr.-Ing. Frank Neumann (Fachbereich 2). Für das Forschungsprojekt „SparePartAssist“ hat er sich mit den passenden Partnern zusammengetan und „auf eine spannende Forschungs- und Entwicklungsreise im Rahmen der Förderinitiative KMU-innovativ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung begeben“, wie er es selbst in seinem Blog-Beitrag formuliert.

... zu einem klar definierten Ziel

Die Idee der Projektpartner: Der Servicetechniker scannt das defekte Bauteil vor Ort mit seinem iPad oder iPhone; die auf dem Gerät installierte App nimmt einen Abgleich mit geometrisch ähnlichen Komponenten vor – in der Fachsprache nennt man das partielle Ähnlichkeitssuche – und kann es in ein bis zwei Minuten dank Online-Zugriff auf eine Datenbank nicht nur exakt identifizieren, sondern auch den aktuellen Lagerbestand eruieren und das benötigte Ersatzteil bestellen. Das klingt so naheliegend und logisch, dass man sich unwillkürlich fragt, warum es nicht genau so schon längst gemacht wird. Allein: Prof. Dr. Frank Neumann spricht nicht von ungefähr von einer Forschungs- und Entwicklungsreise.

Auf den Tiefenscanner kommt es an

Die erste Etappe der im Juni 2020 begonnenen Reise endete mit der Erkenntnis, dass die 3D-Sensoren der Android-Welt für die präzise Identifikation von Objekten noch nicht ausreichen. „Android-Geräte bieten die 3D-Scans nicht in der benötigten Qualität, anders als wir ursprünglich angenommen hatten. Das gelingt aber den neuesten Apple-Geräten mit ihren integrierten Tiefenscannern“, weiß Prof. Dr. Neumann inzwischen, nachdem er die Sensoren auf Herz und Nieren geprüft hat. Nur die LiDAR-Sensoren der Apple-Geräte liefern „die passenden Punktwolken“, erklärt der auf 3D-Suchverfahren spezialisierte Wissenschaftler. Er geht derzeit davon aus, dass die geplante App alle Objekte größer als zehn Zentimeter identifizieren kann: Motorenteile und Förderschnecken, Schaltelemente und Ventile, Relais und Pumpen, eben alles, was in komplexen Anlagen so verbaut ist.

Unterstützung von der Adlershofer GfAI

Wissenschaftlicher Partner bei dieser ersten Projektetappe, in deren Mittelpunkt das Scannen der Objekte steht, ist die in Adlershof ansässige Gesellschaft für Angewandte Informatik (GfAI), übrigens ein An-Institut der HTW Berlin, bei dem schon so manche_r Studierende des Studiengangs Ingenieurinformatik ein Praktikum absolvierte oder auch beruflich Fuß fasste. Prof. Dr. Neumann schätzt die GFaI sehr. In fast jedem Semester begleitet sie studentische Softwareentwicklungsprojekte. Nun kooperiert der Hochschullehrer im Projekt „SparePartAssist“ zum ersten Mal mit der GFaI in der Forschung.

Alle Meetings im virtuellen Raum

Eine nicht minder wichtige Rolle im Projekt spielen die beiden Unternehmenspartner. Pandemiebedingt hat sich die Projektgruppe übrigens bislang nur im digitalen Raum getroffen, statt sich auf Meetings und Konferenzen auszutauschen. Doch der engagierten Zusammenarbeit stand das glücklicherweise nicht im Weg.

Kompetenz in Sachen digitale Produktkataloge

Da ist zum einen der in Augsburg ansässige Mittelständler CADENAS GmbH, bei dem die Projektleitung liegt. Zu den Spezialgebieten des Softwareherstellers gehört u.a. die Produktion von digitalen Produktkatalogen. Das Unternehmen steuert die Datenbank bei, auf deren Grundlage die App das gescannte Objekt identifizieren kann. Diese Datenbank ermöglicht den Zugriff auf Millionen von Komponenten aus über 400 Katalogen namhafter Hersteller und eine 3D-Ähnlichkeitssuche. Zuletzt registrierte man bei CADENAS einen jährlichen Download von über 212 Millionen dreidimensionalen Komponenten, die mit CAD entwickelt wurden. Außerdem koordiniert CADENAS die Entwurfs- und Entwicklungsarbeiten an der SparePartAssist-App.

Expertise im Bereich Facility Management

Zweiter Unternehmenspartner ist die Keßler Real Estate Solutions GmbH, ein Mittelständler aus dem Bereich Facility Management. Auch dieses Unternehmen hat sich die Digitalisierung, Automatisierung und Optimierung von Prozessen auf die Fahnen geschrieben, unter anderem bei der Instandhaltung, beim Bauprojekt– und Mietmanagement sowie der Budgetplanung. Die Firma Keßler bringt die branchenspezifische Software FAMOS aus dem Facility Management in das Forschungsprojekt ein. Mit Hilfe von FAMOS lässt sich nach der Objekterkennung sogar prüfen, ob das gewünschte Ersatzteil auf Lager ist oder bestellt werden muss.

2021 soll die erste App-Version vorliegen

Nun gilt es, die eine Software mit der anderen „zusammenzuklöppeln“, wie es Prof. Dr. Neumann salopp formuliert. Oder um mit den seriösen Begriffen seines Projektplans zu sprechen: In den nächsten Monaten werden der Entwurf der Benutzeroberfläche finalisiert, die App aufgesetzt und ihre Bedienung getestet und verfeinert, die Systeme verknüpft, die Prototypen für verschiedene Suchalgorithmen entwickelt und die Suche optimiert werden. Mitte 2021 will das Team eine erste Version der SparePartAssist-App vorstellen, die bis Ende 2022 um weitere Inhalte erweitert und mit FAMOS verbunden wird. Sie wird branchenneutral funktionieren und kein spezifisches Wissen für die jeweiligen Anlagen enthalten, sondern die relevanten Informationen allein auf der Grundlage der 3D-Objekterkennung ermitteln und übergeben. Industriespionage ist also ausgeschlossen.

Erweiterung um Künstliche Intelligenz?

Die App ließe sich um animierte Montage- und Demontageanweisungen ergänzen und als interaktive Lehr- und Lernplattform zu einem Assistenzsystem ausbauen. Prof. Neumann selbst will mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Marian Bookhahn herausfinden, ob sich auch Deep Learning, also künstliche Intelligenz integrieren und dadurch die Objektidentifikation weiter verfeinern lässt. Das reizt ihn als Wissenschaftler ungemein.

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