Wenn soziale Realität ins Museum kommt

Was meint „queer“? Können gleichgeschlechtliche Paare richtig heiraten? Woher weißt du, ob jemand trans* ist? Kinder und Jugendliche stellen viele Fragen, wenn sie sich der vielfältigen Lebensweisen in ihrem sozialen Umfeld bewusst werden. Das Jugend Museum in Schöneberg gibt in einer Ausstellung kluge Antworten. Sie entstanden unter anderem auf der Grundlage eines Forschungsvorhabens, an dem mit Prof. Dr. Tobias Nettke des Studiengangs Museumskunde der HTW Berlin sowie Prof. Dr. Jutta Hartmann von der Alice Salomon-Hochschule beteiligt waren. Wir fragten nach.

Warum halten Sie es für wichtig, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Prof. Dr. Hartmann: Kinder und Jugendliche erfahren und beobachten tagtäglich, dass es vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen gibt. Sie sind neugierig, stellen Fragen, entwickeln ihre eigene Identität. Viele Pädagog_innen sind sich entweder unsicher, wie sie das Thema aufgreifen können, oder sie tun es entgegen besserer Absicht in einer Weise, die ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Lebensweisen reproduziert, statt dieses aufzulösen.

Pädagogik soll aber so früh wie möglich jedweder Diskriminierung entgegenwirken. Es ist letztlich eine Frage der sozialen und kulturellen Gerechtigkeit, ob und wie vielfältige Lebensweisen auch in der Bildungsarbeit sichtbar werden und Kinder und Jugendliche darin bestärkt, dass gerade diese Vielfalt im Miteinander gut und wichtig ist. Unsere empirisch fundierten Empfehlungen, wie das Thema bearbeitet werden kann, sollen dazu beitragen.

Das Modellprojekt „ALL INCLUDED!“ wurde schon ausgezeichnet. Was passierte da konkret?

Prof. Dr. Nettke: Wir haben klassische Praxisforschung gemacht. Das heißt: Wir haben z.B. das Museumsteam beim Schulbesuch begleitet. Der bunt bemalte Bauwagen enthält interessante Exponate, die Kinder und Jugendliche an das Thema heranführen. Ein Beispiel: Zwei Fotos in einem Rahmen zeigen links einen Mann mit einem Mann im Arm, rechts denselben Mann im gleichen Ambiente mit einer Frau im Arm. Der Betrachter bzw. die Betrachterin wird aufgefordert, den Fehler im Bild zu finden. Der Fehler liegt im verkehrt aufgestellten Porzellanpferd auf dem Couchtisch. Wir haben die Interaktionen der Pädagog_innen mit den Schüler_innen beobachtet, Interviews geführt und ausgewertet. Gemeinsam mit den Pädagog_innen haben wir neue Ideen und Ansätze entwickelt, mit denen es noch besser gelingen kann, die besagte Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen zu vermitteln.

Warum tun sich für das Projekt eine Wissenschaftlerin und ein Wissenschaftler von zwei verschiedenen Hochschulen zusammen?

Prof. Dr. Hartmann: Weil es fachlich hervorragend passt. In der Didaktik gehören das Was und das Wie zusammen. Als Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit interessiert mich insbesondere, was genau aus welcher Perspektive mit welchen Zielen thematisiert wird. Der Kollege der Museumspädagogik kümmert sich vor allem darum, in welchen Formaten dies geschieht.

Wer profitiert von Ihren Erkenntnissen und Empfehlungen?

Prof. Dr. Hartmann: Zunächst einmal Pädago_innen und Fachkräfte in der Bildungsarbeit vor Ort. Wir können und wollen ihnen zwar keine Patentrezepte bieten, aber wichtige Impulse für geeignete Inhalte und eine kreative Beschäftigung in der Praxis geben. Dann auf jeden Fall auch die Kinder und Jugendlichen, die ein Recht auf Schutz vor Diskriminierung haben wie auf das Kennenlernen vielfältiger Lebensgestaltungsmöglichkeit. Und last but not least unsere Gesellschaft, in der ein Mehr an sozialem Frieden möglich ist.

Prof. Dr. Nettke: Wir haben unsere Erkenntnisse inzwischen veröffentlicht. Das Buch ist im transcript-Verlag erschienen. Es trägt den Titel „Heteronormativitätskritische Jugendbildung" und bietet theoretische Perspektiven, empirische Erkenntnisse und Orientierungslinien für die Praxis.

Über VieL*Bar

Das gemeinsame Forschungsprojekt von Prof. Dr. Jutta Hartmann (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Prof. Dr. Tobias Nettke (HTW Berlin) heißt VieL*Bar: Vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen in der Bildungsarbeit. Die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler kooperieren dabei mit dem Jugend Museum Schöneberg, dem Schwule Museum*, der Bildungsinitiative QUEERFORMAT sowie dem ifgg – Institut für genderreflektierte Gewaltprävention. VieL*Bar wird vom Institut für angewandte Forschung (IFAF) gefördert.