„Ganz Europa ist irgendwie klein“

São Carlos in Brasilien ist wohl das, was man allgemein hin eine Studentenstadt nennt. 240.000 Einwohner leben in der etwa vier Stunden von São Paulo entfernten Kleinstadt. Viele von ihnen studieren auf dem Campus der Universidade de São Paulo (USP), einer der größten Universitäten Brasiliens und Partnerhochschule der HTW Berlin. Vier Studenten aus São Carlos haben die Stadt zurzeit für ein Auslandssemester in Berlin verlassen. Gustavo, Leonardo, Luiz und Icaro sind Anfang 20 und studieren Bauingenieurwesen oder Elektrotechnik auf dem Campus Wilhelminenhof.

„In fünf Stunden durch zwei Länder!“

„Mal außerhalb der bekannten Welt zu leben ist der beste Weg, um neue Erfahrungen zu machen und Wissen zu sammeln“, erklärt Gustavo seine Entscheidung, ein Auslandssemester zu machen. Neben der Idee, die Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern und neue Leute kennenzulernen, war es vor allem auch der Kontinent Europa, der die vier Brasilianer in die deutsche Hauptstadt gelockt hat: „Ganz Europa erscheint mir irgendwie klein“, erzählt Gustavo grinsend. „Um in Brasilien von São Carlos in meine Heimatstadt zu fahren, brauche ich alleine fünf Stunden. Hier in Europa kann man in dieser Zeit durch zwei Länder fahren“, ergänzt Leonardo.

„Es ist sehr still in Berlin.“

Dafür brauchen Gustavo, Leonardo, Luiz und Icaro nun zum Campus deutlich länger. „In São Carlos würde ich höchstens 10 Minuten zum Campus brauchen, hier mindestens 45 Minuten“, erzählt Leonardo. „Zunächst fiel es mir auch schwer, mich in dieser großen Stadt zurechtzufinden. Aber mittlerweile finde ich es toll, hier zu leben“, meint Icaro. Untergebracht sind die vier im Studentenwohnheim Viktor Jara in Biesdorf. Dort haben sie schnell Anschluss gefunden, besonders zu Austauschstudierenden. „Nur Kontakt zu Deutschen zu knüpfen, ist leider manchmal etwas schwierig“, meinen sie. In Brasilien seien die Leute kontaktfreudiger und offener. So finden sie auch die Geräuschkulisse in Berlin bemerkenswert: „Es ist sehr still in dieser Stadt. In Brasilien wird sich in der Öffentlichkeit viel schneller und lauter unterhalten, es entstehen ganz schnell Gespräche, sei es beim Warten auf den Bus oder mit der Verkäuferin in einer Bäckerei“, erzählt Icaro.

„Deutschland hat viel aus seiner Geschichte gelernt.“

Trotzdem mögen sie die Stadt. „Das schönste an Berlin ist die Fülle an Kultur und Geschichte“, meint Gustavo. Er ist fasziniert von der Entwicklung Deutschlands seit dem zweiten Weltkrieg. „Es scheint so, als hätte das Land viel aus seiner Geschichte gelernt und viel getan, damit so etwas Schreckliches wie im Zweiten Weltkrieg nie wieder passiert. Für mich ist Berlin zurzeit eine der am weitesten entwickelten Städte, wenn wir über soziale Rechte und Offenheit in Bezug auf Fremdes sprechen“, meint er. Auch Icaro erzählt, dass sein Bild von Europa vorher primär aus alten Gebäuden und einer homogenen Kultur bestanden habe: „In Berlin fand ich aber vor allem das Gegenteil vor.“

„Das Pfandsystem ist wirklich clever.“

Anders als in ihrer Heimat ist auch das Umweltbewusstsein der Gesellschaft. „Ich würde nicht sagen, dass Brasilien nicht über Umweltfragen besorgt ist, aber Deutschland ist uns voraus“, sagt Gustavo. Vor allem das Pfandsystem finden sie clever. Besonders erstaunt hat sie aber ein anderer Aspekt des Lebens in Deutschland: „Auch wenn es skurril klingt, es hat mich wirklich überrascht, dass man hier kaum Sorge haben muss, bestohlen zu werden“, meint Gustavo. Und auch Leonardo pflichtet ihm bei, er habe nicht damit gerechnet, dass er hier jeder Zeit ohne Angst durch die Straßen laufen kann. Fehlen tut den vieren neben ihren Familien allerdings das brasilianische Essen. „Wir essen normalerweise viel mehr Fleisch“, meint Leonardo.

Auch wenn ihre Zeit in Deutschland und an der HTW Berlin zunächst begrenzt ist, wollen die vier Brasilianer irgendwann wieder nach Berlin kommen. Denn „einen Ort zu besuchen, an dem man eine schöne Zeit hatte, ist immer eine gute Möglichkeit, tolle Erinnerungen wachzurufen“, meint Leonardo.