"Erfinden kann man lernen"

Claudia Hentschel

Tütenweise Marshmallows, Kisten voller Legosteine oder auch mal 1.500 Putzschwämme. Wenn Claudia Hentschel ihren Studierenden etwas veranschaulichen möchte, dann wird sie erfinderisch. Und die Studierenden werden es über kurz oder lang auch.

Regelmäßig rückt die Professorin nämlich mit einem ganzen Bollerwagen voller Alltagsgegenstände zur Vorlesung an und verwandelt den Raum kurzerhand in ein Versuchslabor. „Es gibt bei mir immer etwas zum Anfassen, Anschauen, Schmecken oder Hören“, sagt sie. Denn so kennt sie es aus ihrem eigenen Maschinenbaustudium. „Etwas zum Anfassen zu haben, hilft ungemein, Dinge zu ‚begreifen‘ und macht außerdem Spaß“, erklärt sie eine ihrer liebsten Lehrmethoden.

Und dann sind die zukünftigen Ingenieure und Führungskräfte dran: Aus Süßigkeiten, Pappe und Alufolie entstehen beispielsweise futuristische Fahrzeugmodelle. Schwämme verwandeln sich in neue Produkte, denen man ihre „Schwamm-DNA“ nicht mehr unbedingt ansieht. Was wie Basteln für Fortgeschrittene aussieht, hat Methode. Denn Claudia Hentschel möchte ihren Studierenden nichts weniger als Querdenken, Erfindermut und Teamgeist beibringen. Es sind, wenn man so will, die Kernkompetenzen ihres Fachgebietes, das etwas sperrig „Innovations- und Technologiemanagement, Produktentstehung, Betriebsorganisation“ heißt.

Worum es da geht? Im Grunde um die Frage, wie Unternehmen erfolgreich sein können. Und das sind sie man ehesten, wenn ihre Mitarbeiter_innen wie Erfinder_innen denken. Sie werden dringend gebraucht in einer digitalisierten Welt, die Unternehmen in immer kürzeren Abständen Innovationen abverlangt. Wer mit seinen Produkten und Dienstleistungen am Markt bestehen will, sollte lieber heute als morgen Lösungen für die Wünsche seiner Zielgruppen finden. Automobilhersteller und ihre Zulieferer denken in der Tat intensiv darüber nach, wie autonom fahrende Autos gebaut sein müssen, damit Verbraucher_innen sie kaufen. Und Produzenten von Putzschwämmen wollen wirklich wissen, wie sie ihre Produktpalette erweitern können.

Dass sie in ihren Seminaren solche realen Beispiele ihrer Partner aus der Wirtschaft konsequent bearbeiten lässt — und auch wie sie es tut — das wissen die zukünftigen Wirtschaftsingenieur_innen und Betriebswirtschaftler_innen der HTW Berlin sehr zu schätzen. Sie waren es, die die Ingenieurin Claudia Hentschel für den Preis für gute Lehre 2017 vorgeschlagen haben.

„Na, spielen Sie schon wieder?“

„Wenn ich mit Legosteinen komme, denken viele ‚Das ist ja einfach`. Aber das stimmt nicht. Denn, wenn ich das Wissen nicht mit der passenden Methode vermittle, nützen auch bunte Klötzchen nichts.“ Aber, um abstrakte Konzepte oder logistische Prozesse wie Lean Produktion zu veranschaulichen, eignen sie sich schon. Das Stichwort lautet „Gamification“. Im richtigen Moment eingesetzt, führt der spielerische Ansatz fast immer zu Aha-Effekten.

TRIZ, Biomimikry, Cynefin, Six Sigma, DFMAS und Design Thinking sind weitere Methoden, mit denen Claudia Henschel ihren Studierenden - aber auch Führungskräften und Teams in der Industrie - „Erfinderdenken“ beibringt. Doch der Weg zur angesehenen Lehrkraft und gefragten Trainerin war nicht leicht.

Von den Misserfolgen zum „Munterricht“

„Wir werden hier als Fachleute für ein bestimmtes Wissensgebiet berufen, nicht als Didaktik-Gurus. Am Anfang habe ich oft Schiffbruch erlitten. Die Studenten haben nicht verstanden, was ich ihnen vermitteln wollte. Das lag aber nicht an denen, sondern an mir. Also habe ich viele Bücher gelesen und hier an der Hochschule den Kurs „Munterrichtsmethoden“ gemacht – und dann vieles ausprobiert. Manches funktioniert auch nicht, da braucht es dann Mut zum Experimentieren. Wie gute Lehre geht, habe ich peu à peu gelernt - oft im vertrauensvollen Austausch mit Kolleg_innen der HTW Berlin und anderer Hochschulen“, macht die Preisträgerin klar.

Claudia Hentschel stammt aus einer Arbeiterfamilie. Ingenieurin wurde sie unter anderem deshalb, weil sich die Tochter eines Ofensetzers und einer Schneiderin nicht für kreativ hielt. Das scheint sich gründlich geändert zu haben. Kreativitäts- und Mnemo-Techniken sowie Innovationsmethoden sind ihr in Fleisch und Blut übergegangen, in ihrem Unterricht geht es praktisch nicht mehr ohne sie. Heute ist sie überzeugt: „Erfinden kann man lernen“.

Das bedeutet aber nicht, dass jede ihrer Vorlesungen zum Erfinder- und Bastel-Workshop mutiert. Lernen darf auch mal anstrengend sein, findet sie. „Ich sage meinen Studenten: ´Es gibt auch trockenen Stoff, durch den Sie durchmüssen. Aber das Ergebnis macht Spaß, vertrauen Sie mir!`“ Ihre Art zu lehren kommt an, die Studierenden verstehen auch den schwer verdaulichen Stoff und danken es ihrer Professorin seit Jahren mit sehr guten Bewertungen.

Lösungen für Probleme entwickeln, die noch keiner sieht

Welche Studierenden haben Kinder? Wer betreibt ein Hobby, das zum Thema passt? Gute Lehre, das bedeutet für Claudia Hentschel auch immer jede Theorie mit Beispielen zu erklären, die zu der Lebenswelt der Studierenden passen - um sie dann in den Unterricht mit einzubeziehen. „Und plötzlich kommen die größten Skeptiker auf viele schöne Ideen.“

Claudia Hentschel möchte ihren Studierenden nicht nur Lehrstoff beibringen, sondern bewusstes Denken: „Mit den entsprechenden Techniken kann man neue Lösungsmöglichkeiten denken, in den Ingenieurwissenschaften - aber auch im Alltag. Ich will, dass meine Ingenieur_innen und Führungskräfte lernen, ihre Perspektive zu wechseln. In Teams mit anderen können sie so zu besseren Lösungen kommen - oder Probleme entdecken, die so noch keiner gesehen hat.“

Dank der Ideen und Fragen ihrer Studierenden ist die Professorin Claudia Henschel immer auch selbst eine Lernende: „Manche der Studierenden haben mehr Berufserfahrung in der Wirtschaft als ich. Ich gehe aus jeder Veranstaltung mit Anregungen raus, die ich so noch nicht gehört habe. Deshalb macht mir der Beruf viel Spaß“, sagt sie.

Mit dem Preisgeld von 6.000 Euro möchte sie VR-Brillen und einen 3D-Drucker anschaffen. „Am liebsten wäre mir ein mobiles Labor, mit dem man virtuelle Produkte formen kann.“ So bleiben ihre Lehrveranstaltungen auch in Zukunft anschaulich, spannend und praxisnah.

Herzlichen Glückwunsch zum Preis für gute Lehre!