Freistunde – wo lernen auf dem Campus?

Sie bevölkern die Lesesäle der Bibliothek, Flure und Ecken in Gebäuden, viele auch die Mensa; sie sitzen auf Bänken im Hof oder in Cafés rund um den Campus: Studierende, die Freistunden zwischen Lehrveranstaltungen überbrücken oder vor und nach den Lehrveranstaltungen Aufgaben für ihr Studium bearbeiten. „Meist hatte ich den Laptop auf dem Schoß und saß irgendwo auf dem Fußboden“, erinnert sich Jennifer Schneidt, heute Masterstudentin an der HTW Berlin, an ihr Bachelorstudium an der Hochschule Villingen-Schwenningen. Diese informellen Lernräume stehen im Mittelpunkt des Forschungsprojekts NIILS (New Approaches for Inclusive Informal Learning Spaces) von Prof. Dr. Katja Ninnemann (FB 2) und Prof. Dr. Susanne Geister (FB 3). Die beiden Wissenschaftlerinnen wollen herausfinden, wo und wie Studierende auf dem Campus lernen, und anschließend Empfehlungen geben, wie sich die Bedingungen verbessern lassen. Dafür haben sie Fördermittel aus dem Erasmus+ Programm der Europäischen Union eingeworben und arbeiten mit vier Hochschulen in Österreich, Litauen, Italien und der Türkei zusammen.

Im Juni werden Studierende der HTW Berlin befragt

Herzstück des Forschungsprojekts ist eine hochschulweite Befragung von HTW-Studierenden im Juni. „Wo lernst Du auf dem Campus? Welche Orte sind Dir besonders wichtig zum Lernen? Was müsste sich verändern, damit Du besser lernen kannst?“. So und so ähnlich lauten die Fragen. Auf die Antworten sind Prof. Dr. Ninnemann und Prof. Dr. Geister selbst gespannt. Die Expertin für hybride Lern- und Arbeitsumgebungen und die Arbeits- und Organisationspsychologin nehmen Folgendes an: Je höher die Aufenthaltsqualität auf dem Campus, desto lieber kommen Studierende vor Ort, können Gruppenarbeiten produktiv gestalten und vernünftig lernen, fühlen sich als Teil der Hochschule und identifizieren sich mit ihr. Das Thema habe durch die Pandemie noch einmal an Bedeutung gewonnen, sagen die Wissenschaftlerinnen, da alle einmal mehr überlegen, ob sie überhaupt noch auf den Campus kommen.  In den eigenen vier Wänden lässt sich die Lern- und Arbeitszeit meistens produktiv nutzen, und lange Fahrzeiten in den öffentlichen Verkehrsmitteln bleiben einem auch erspart. Andererseits fehlt im Homeoffice der soziale Kontakt und der persönliche Austausch mit anderen Studierenden und den Lehrenden.

Manches hat sich räumlich bereits verändert

Räumlich hat sich an beiden Hochschulstandorten in jüngster Zeit viel verändert. Das wissen auch Prof. Dr. Ninnemann und Prof. Dr. Geister. Der Campus Treskowallee bietet einige flexibel nutzbare Orte und passendes Equipment auf sogenannten Lerninseln, wo Studierende lernen oder in Gruppen arbeiten können. In der Hochschulbibliothek auf dem Campus Wilhelminenhof wird mit drei neu eingerichteten Gruppenarbeitsräumen experimentiert. An beiden Standorten bleibt der eine oder andere Seminarraum nach der Lehrveranstaltung offen und kann genutzt werden. Doch ist das hinreichend bekannt? Werden die Angebote tatsächlich angenommen? Und sind die Studierenden damit zufrieden? Auch das wollen Prof. Dr. Ninnemann und Prof. Dr. Geister durch die Befragung in Erfahrung bringen. Ihr Interesse gilt zudem dem Thema Inklusion. Welche Barrieren, wie z.B. physische oder psychische Beeinträchtigungen, soziale Ungleichheit oder kulturelle Unterschiede erschweren womöglich den Zugang?

Auch informelle Lernräume sind wichtig

Informelle Lernräume und Lernumgebungen sind wichtig, denn Lernen findet nicht nur in den 90 Minuten der Lehrveranstaltung statt, sondern auch davor und danach. Gruppenarbeit gehört zum Alltag, gerade an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Schließlich geht es auch darum, soziale und persönliche Kompetenzen zu erwerben, voneinander zu lernen, Teamarbeit zu organisieren – eben alles zu erproben, was später im Job erwartet wird.

Die Bedürfnisse unterscheiden sich

Klar ist, dass die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind, je nachdem, ob individuell gelernt oder im Team gearbeitet wird. „Allein will man Ruhe arbeiten und ein stabiles WLAN zur Verfügung haben“, sagt Jennifer Schneidt, die ihre Masterarbeit im Rahmen des Forschungsprojekts schreibt. Studentische Gruppen wiederum brauchen Tisch und Stühle, im Idealfall auch technische Ausstattung wie Flipchart und Beamer, um Präsentationen zu üben, außerdem muss es auch mal lauter werden dürfen. Ausreichend Lademöglichkeiten für Laptops und Mobiltelefone benötigen selbstverständlich alle.

Interviews auch mit drei Fokusgruppen

500 HTW-Studierende sollten mindestens an der Befragung teilnehmen, wünschen sich Prof. Dr. Ninnemann und Prof. Dr. Geister. Die beiden Wissenschaftlerinnen werden außerdem ausführliche Interviews mit drei Fokusgruppen führen: mit Studierenden, mit Lehrenden sowie mit Vertreter_innen aus den Bereichen Bibliothek, Studierenden- und Lehrendenservice, Hochschulleitung und Verwaltung. Auch strategische Partner sind beim Projekt NIILS mit im Boot, die sich schon länger mit dem Thema  innovative Lernumgebungen beschäftigen, bspw. die Deutsche Initiative für Netzwerkinformation (DINI), das HIS-Institut für Hochschulentwicklung, das Hochschulforum Digitalisierung (HFD) und der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft.

Der europäische Vergleich wird spannend

Spannend wird auch der europäische Vergleich. Dieselben Fragebögen wie die HTW-Studierenden bekommen nämlich auch die Studierenden an den vier europäischen Partnerhochschulen: der Donau-Universität im österreichischen Krems, der ältesten Universität in Rom, der Sapienza – Università di Roma, der Akdeniz-Universität im türkischen Antalya und der Mykolas-Romeris-Universität im litauischen Vilnius. Auch dort führen Wissenschaftler_innen Interviews mit den schon erwähnten Fokusgruppen.

Am Ende gibt es konkrete Handlungsempfehlungen

Am Schluss des Forschungsprojekts wird es Länderberichte geben, konkrete Handlungsempfehlungen und eine breite Kommunikation. Die Forschungslücke ist noch groß, wissen Prof. Dr. Ninnemann und Prof. Dr. Geister. Das gelte vor allem für empirische Untersuchungen zum Thema, aber auch für die Frage, welche Lernumgebungen gut zu den heutigen Lernformen passen. Dieses Defizit bemängelt auch der Wissenschaftsrat in seinem Positionspapier „Probleme und Perspektiven des Hochschulbaus 2030“ vom Januar 2022. Seine Empfehlung: Es gelte, didaktische Anforderungen zu entwickeln und künftige Nutzungsszenarien zu identifizieren. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts NIIILS werden dazu beitragen.

Weiterführende Links