Die EU benötigt strategische Souveränität

Der 9. Mai gilt als Geburtsstunde der Europäischen Union. Am 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman in einer Rede vor, eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zu schaffen – aus der EKGS entstand später die EU -, um durch die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion Kriege zwischen den Nationen Europas undenkbar zu machen und den Frieden zu wahren. Eine seinerzeit visionäre Idee, die vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine aktuelle Bedeutung erhalten hat. Prof. Dr. Björn Hacker (FB 3), Experte für die europäische Wirtschaft und Integration, nimmt im Interview eine Einordnung vor.

Eigentlich wird am 9. Mai gefeiert, wie ist Ihnen zumute?

Prof. Dr. Björn Hacker: Von Feierlaune kann leider keine Rede sein. Denn durch den Angriffskrieg in unmittelbarer Nachbarschaft wird auch unser europäisches Gesellschaftsmodell gefährdet und bedroht. Der Europatag am 9. Mai ist eine mahnende Erinnerung an die erst nach zwei verheerenden Weltkriegen geglückte Versöhnung der Europäer. Territoriale Expansionsgelüste wie jene des russischen Präsidenten sind der EU und ihren Mitgliedstaaten aus gutem Grund fremd.

Hat die EU angemessen auf den Krieg reagiert?

Man ist von der EU ja selbst in Krisensituationen langwierige Verhandlungen und das Schnüren von „package deals“ gewöhnt, um alle 27 Mitgliedstaaten an Bord zu bekommen. Doch im Angesicht einer völkerrechtswidrigen militärischen Aggression ging es schnell. Noch am Tag des Kriegsbeginns am 24. Februar haben die Staats- und Regierungschefs der EU den militärischen Angriff Russlands als ungerechtfertigt verurteilt und die Ukraine der europäischen Solidarität versichert. Auf erste Sanktionen der EU gegen die russische Regierung sind weitere Sanktionspakete gefolgt, außerdem die Unterstützung der Ukraine in verschiedenen Bereichen des Zivilschutzes sowie die Hilfe für vor dem Krieg in die Union fliehende Ukrainerinnen und Ukrainer. Selbst ständige Kritiker des Brüsseler Europakosmos, wie der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán, sind recht leise, um die Geschlossenheit der EU in ihrer Positionierung gegen den Krieg nicht zu brechen.

Welche Maßnahmen erachten Sie für besonders wichtig?

Die EU ist außenpolitisch und insbesondere militärisch ein Zwerg, aber ein ökonomischer Riese. Das Pfund, mit dem sie wuchern kann, sind Wirtschaftssanktionen. Russland ist nach einer ganzen Serie an Sanktionspaketen bereits stark isoliert, die Teilnahme am internationalen Marktgeschehen nur noch sehr begrenzt und insbesondere über Staaten möglich, die den Krieg nicht verurteilen wollen. Das gilt für den Warenhandel ebenso wie für den Kapitalverkehr und die Personenmobilität.

Zwei Problemfelder bleiben allerdings: Zu stark haben sich einige Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – abhängig gemacht von Energieimporten aus Russland. Diese könnten mangels schneller Alternativen nur unter Inkaufnahme größerer wirtschaftlicher Verwerfungen abrupt beendet werden. Nach über zwei Monaten Krieg stellt sich zudem die Frage, ob es Wladimir Putin gelingt, die Wirtschaftssanktionen auf Kosten der russischen Bevölkerung auszusitzen, dabei aber militärische "faits accomplis" zu schaffen.

Sollte oder könnte mehr getan werden?

Als Ursula von der Leyen ihr Amt als Präsidentin der Europäischen Kommission antrat, sprach sie vom Erfordernis einer „geopolitischen Kommission“, davon, dass die EU „die Sprache der Macht“ lernen müsse. 2019 wurde das vielfach belächelt, drei Jahre später sind allen die Defizite des Staatenverbunds bewusst. Allerdings kann es jetzt nicht allein um die beschleunigte Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehen. Die strategische Souveränität Europas, von der jetzt oft die Rede ist, benötigt mehr als koordinierte Streitkräfte und europäische Battlegroups.

Wie definieren Sie "strategische Souveränität der EU"?

Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, wie wichtig es ist, unser spezifisch europäisches Gesellschaftsmodell des kooperativen Miteinanders in Frieden und wirtschaftlicher Prosperität zu verteidigen – notfalls mit Waffengewalt. Doch souverän nach außen sind wir als Gemeinschaft nur, wenn dieses Modell auch nach innen gelebt, gefestigt und weiterentwickelt wird. Strategische Souveränität bedeutet für mich daher die schnelle Umsetzung des EU-Energiebinnenmarktes, die abgestimmte Anstrengung der transformativen Herausforderungen in Klimawandel und Digitalisierung, die Ermöglichung eines supranationalen Managements für wirtschaftliche und soziale Krisen.

An der HTW Berlin hat der Fachbereichsrat des FB3 gerade die Einrichtung eines neuen Masters in Europäischer Wirtschaftspolitik als transnationales Kooperationsstudium auf den Gremienweg gebracht. Auch dies ein kleiner Beitrag, damit künftige Absolventinnen und Absolventen die EU stärker machen.

Für wie stabil halten Sie die Solidarität der EU-Staaten?

Was Moskau mit der Kriegseröffnung – vermutlich ungewollt – erreicht hat, ist die neu belebte transatlantische Freundschaft, die Revitalisierung der NATO und die kaum wiederzuerkennende Geschlossenheit der EU. Noch in der Coronakrise haben sich die EU-Staaten lange gestritten, bis mit dem Paket "NextGenerationEU" eine gemeinschaftliche Reaktion finanzieller Solidarität in Höhe von 750 Milliarden Euro beschlossen werden konnte. Und das war schon sehr fortschrittlich gegenüber der sogenannten Flüchtlingskrise oder der Eurokrise, in denen die Solidarität über die eigenen nationalen Grenzen hinaus wenig ausgeprägt waren. Es ist sicher die Wucht der Ereignisse, die erst in der Pandemie und nun im Krieg die Notwendigkeit der Zusammenarbeit sichtbar macht. Ich würde mir diese Erkenntnis auch in anderen Politikfeldern wünschen.

Wie sollte die EU mit dem Aufnahmegesuch der Ukraine umgehen?

Symbolisch ist die von der EU ausgestreckte Hand für ein Aufnahmeverfahren sehr wichtig. Doch heute darüber zu sprechen, verlangt von den EU-Institutionen die Ehrlichkeit ab, zu verbalisieren, dass dies ein langer und steiniger Weg wird, ein vieljähriger Anpassungsprozess. Es stehen bereits einige in der Warteschlange, etwa die Staaten des Westbalkans, und die EU ist gut beraten, vor jeder nächsten Erweiterung mit Verve an ihrer inneren Reformfähigkeit und Souveränität als Gemeinschaft zu arbeiten.