Wenn die Psyche im Job nicht mehr mitspielt

Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems wie z.B. Rückenschmerzen sind als Volkskrankheit Nummer 1 bekannt. Weniger bekannt sein dürfte die Nummer 2 auf der Liste der Ursachen für Arbeitsunfähigkeit: psychische Erkrankungen. Depressionen, Angststörungen und Suchtprobleme – um nur einige Beispiele zu nennen – waren 2019 Anlass für immerhin 27,4 Prozent der Krankgeldtage, bilanziert die Deutsche Rentenversicherung. „Die Anzahl der Tage, an denen Beschäftigte alleine aufgrund ärztlich diagnostizierter psychischer Beeinträchtigungen arbeitsunfähig waren, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, wohingegen die Zahlen bei den anderen Ursachen relativ stabil geblieben sind“, sagt Prof. Dr. Jochen Prümper, Diplom-Psychologe und Experte für Wirtschafts- und Organisationspsychologie im Fachbereich 3.

Psychische Erkrankungen dauern lange

Nachdenklich macht nicht nur die Häufigkeit dieser Krankschreibungen, sondern auch ihre Dauer. Waren Beschäftigte wegen einer Muskel-Skelett-Erkrankung im Schnitt 19,7 Tage arbeitsunfähig, vermerkt der Report 2019 der Betrieblichen Krankenkassen bei psychischen Störungen doppelt so viele Krankheitstage, nämlich exakt 37. Hinzukommt: Psychische Störungen sind verantwortlich für weit über 40 Prozent der Frühverrentungen in Deutschland, die im Durchschnitt mit 52 Jahren erfolgen. Bei Muskel-Skelett-Erkrankungen sind es laut der Deutschen Rentenversicherung gerade einmal 12 Prozent.

Welche Angebote kann man Betroffenen machen?

Doch wie kann man psychisch erkrankte schwerbehinderte Beschäftigte wieder in das Arbeitsleben zurückholen bzw. welche Angebote könnten Arbeitgeber unterbreiten, damit sich zum körperlichen Handicap von Mitarbeiter_innen nicht auch noch psychische Probleme gesellen, was häufig der Fall ist? Diesen Fragen geht Prof. Dr. Prümper gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft und Praxis in seinem neuesten Forschungsprojekt nach. Mehr als 2,3 Millionen Euro stellt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dafür bereit.

Derzeit gibt es wenig Unterstützung

Die hohe Fördersumme lässt die Relevanz des Themas erkennen. Derzeit gibt es für Beschäftigte wenig Unterstützung in diesem Bereich, weiß Prof. Dr. Prümper, der sich schon lange mit der Materie beschäftigt. Auch kleine und mittlere Unternehmen und sogar große Betriebe fühlen sich weitestgehend hilflos. Sie wüssten wenig über die Beeinträchtigungen, seien aber mit langen Ausfallzeiten der Erkrankten konfrontiert. Eine zusätzliche Barriere stelle die weit verbreitete Stigmatisierung psychisch erkrankter bzw. beeinträchtigter (schwerbehinderter) Menschen dar. „Über einen Herzinfarkt redet man eben offener als über eine Depression“, hat der Arbeits- und Organisationspsychologe die Erfahrung gemacht.

Auch das Arbeitsrecht ist zu beachten

Die Entwicklung von Strategien und Konzepten ist allerdings nicht trivial. Es gilt dabei nicht nur gewachsene Strukturen zu verändern, sondern auch komplexe arbeitsrechtliche Regelwerke zu beachten, genauer gesagt: das im neunten Sozialgesetzbuch verankerte Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM), das den Umgang mit schwerbehinderten Beschäftigten festschreibt. BEM bedeutet: Wer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist, hat Anspruch auf ein Gespräch seitens des Arbeitsgebers, in dem geklärt werden muss, „wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann."

Das Motto: "Digital einfach machen"

In ihrem Forschungsprojekt setzten Prof. Dr. Prümper und seine Partner aus Wissenschaft und Praxis auf digitale Instrumente. „Digital einfach machen“, ist ihr Motto. Dabei haben sie erstens die Betroffenen selbst im Auge, zweitens die Arbeitgeber, drittens die Netzwerke, darunter viele Selbsthilfegruppen.

Wer bereits erkrankt ist oder zu erkranken droht, wünscht sich verständlich und barrierefrei aufbereitete Informationen, die dabei helfen, die persönliche Situation zu erkennen und mit ihr konstruktiv umzugehen. Arbeitgeber wiederum benötigen rechtssichere Materialien, mit deren Hilfe sie ihre Verantwortlichen intern qualifizieren und verlässlich aufklären können, sei es nun die Schwerbehindertenvertretung oder die Fachkraft zum Thema Arbeitssicherheit. „Wir planen auch eine Kampagne zur Ent-Stigmatisierung“, sagt Prof. Dr. Prümper. Die zahlreichen Selbsthilfegruppen wiederum sollen Zugang zu einem regionalen und überregionalen Expert_innen- und Informationspool bekommen, der ihnen eine leichtere Vernetzung ermöglicht.

Partner aus Wissenschaft und Praxis

Dem Arbeits- und Organisationspsychologen zur Seite stehen innerhalb der HTW Berlin der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Andreas Schmidt-Rögnitz (ebenfalls FB 3) sowie Prof. Dr. Juliane Siegeris und Prof. Dr. Jörn Freiheit (FB 4) mit ihrer IT-Expertise, unterstützt von Brit Leissler (UX Design) und Alexander Stanschus (Webentwicklung). Kooperationspartner ist die in Berlin-Kreuzberg ansässige GAW gemeinnützige Gesellschaft für Arbeitsfähigkeit und Wohlbefinden.

Erfahrungen bzw. Anforderungen aus der Praxis steuern höchst unterschiedliche Partner aus fünf Bundesländern bei: eine Mischung aus klassischer Industrie, sozialen Einrichtungen, Genossenschaften und Öffentlichem Dienst. Mit von der Partie sind beispielsweise Verwaltungen wie die im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach oder im nordrhein-westfälischen Landkreis Soest, der mittelständische Familienbetrieb Trimet Alumnium, das global aufgestellte BioPharma-Unternehmen AbbVie, verschiedene Niederlassungen des pharmazeutischen Großhandelsunternehmens Sanacorp und des Chemiekonzerns BASF sowie die in Mainz residierende Gesellschaft für psychosoziale Einrichtungen.

An der HTW Berlin laufen die Fäden zusammen

Sie alle mit ihren Erfahrungen und Kompetenzen „an einen Tisch“ zu bringen, ist dank Digitalisierung auch in Pandemiezeiten möglich, ja: sogar einfacher geworden. Der mit Corona verbundene Digitalisierungsschub kommt dem Projekt tatsächlich zugute“, sagt Prof. Dr. Prümper. Bei ihm und seinen drei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Anika Melzer, Manuela Metzner und Kathrin Moreno Superlano laufen die Fäden zusammen.

Bis 2023 sollen Ergebnisse vorliegen

In den nächsten drei Jahren werden sich die Beteiligten regelmäßig in virtuellen Lern und Experimentierräumen treffen. Sie werden sich über Probleme und Chancen austauschen, ihre Erfahrungen einbringen und ihre Anforderungen. Betroffene werden dabei sein und Selbsthilfegruppen, Geschäftsführungen und Behördenchefs, Betriebs- und Personalräte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Schwerbehindertenvertretungen, und natürlich die Wissenschaftler_innen der HTW Berlin. Schritt für Schritt werden bis September 2023 konkrete Angebote und Materialien entwickelt, eine Webseite aufgebaut, und so Konzepte und Strategien entstehen, die dabei helfen, dass psychisch kranke Schwerbehinderte beruflich nicht ins Abseits geraten und ins Arbeitsleben zurückkehren können.

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