Alle Komponenten müssen perfekt zusammenspielen

Das achtstöckige Wohnhaus mit den auffällig blauen Balkonen in der Havensteinstraße 20/22 in Berlin-Lankwitz weiß seine Qualitäten gut zu verbergen. Wohl keiner sieht, was Prof. Dr. Friedrich Sick, Sebastian Dietz und Frederik Werder im Zuge ihres Forschungsprojekts akribisch dokumentiert haben: Dass es sich bei dem in den 50er Jahren erbauten und von 2016 bis 2017 sanierten Gebäude um ein zukunftsweisendes Wohnhaus handelt, das bereits heute die Anforderungen des Pariser Klimaschutzabkommens erfüllt.

Moderne Technik im ganzen Haus

Das ist einerseits kein Wunder, ließ das Berliner Wohnungsbauunternehmen degewo doch im Zuge der gründlichen Sanierung hochmoderne Technik installieren: Photovoltaik auf dem Dach und an der Fassade, Hybridkollektoren, einen Batteriespeicher für die lokal erzeugte Energie neben dem Haus sowie einen Wärmespeicher in der Erde, Deckenstrahlheizungen statt herkömmlicher Heizkörper, Energie sparende Belüftungstechnik und Wärmepumpen für Heizung und Trinkwassererwärmung. Andererseits entfaltet innovative Technik nur dann die gewünschte Wirkung, wenn das Zusammenspiel aller Komponenten gut funktioniert und auch die Nutzungsgewohnheiten der Mieter_innen bedacht werden. Das ist zumindest das Fazit von Prof. Dr. Sick und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, nachdem sie die gesamte Technik und acht ausgewählte Wohnungen auf Wunsch der degewo und mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie mehr als vier Jahre sehr intensiv unter die Lupe genommen haben.

Präzise Daten von 750 Meßstellen

Beinahe 300 Seiten stark ist der im Oktober 2020 fertig gewordene Schlussbericht, in dem es von Abbildungen, Formeln und Diagrammen nur so wimmelt. Mithilfe von ausgefeilter Sensorik gemessen und ingenieurwissenschaftlich ausgewertet wurden sämtliche Daten, die über 750 im Gebäude verteilte Messstellen hergaben: Temperaturen, thermische und elektrische Leistungen von Energie erzeugenden und verbrauchenden Komponenten, Wärmeströme, Luftqualitäten in den Wohnungen, Speicherladezustände und sogar die Daten einer komplett für das Projekt errichteten Wetterstation auf dem Dach des Hauses.

82 Prozent weniger Energie wird verbraucht

Mehr als eine halbe Million Euro standen Prof. Dr. Sick und seinem Team für das Monitoring zur Verfügung. Sie wollten konkrete Antworten auf grundlegende Fragen geben: Taugt das degewo-Zukunftshaus als Beispiel für die Sanierung von weiteren Häusern? Spielen die einzelnen Komponenten gut zusammen? Stimmten die Prognosen, auf denen die Planung des wegweisenden Energiekonzepts für das Gebäude fußte? Darüber gibt der Bericht genau Aufschluss. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis vorneweg: Das Zukunftshaus der degewo verbraucht heute 82 Prozent weniger als vorher. Hätte das inzwischen mit einem guten Wärmeschutz versehene Gebäude nur drei Etagen, müsste bilanziell sogar gar kein Strom mehr aus dem Netz bezogen werden. Doch um alle Mieter_innen in 64 Wohnungen auf acht Stockwerken und einer Wohnfläche von insgesamt 3.626 Quadratmeter mit Heizung, Strom, warmem Wasser und Belüftung zu versorgen, reicht die Fläche für Photovoltaik auf dem Dach und in der Fassade nicht aus, trotz des Batteriespeichers, konsequentem Niedertemperaturkonzept, innovativer Belüftung, maximaler Energieeffizienz und zwei effizient betriebenen Wärmepumpen.

Gute und schlechte Erfahrungen sammeln

Die überzeugende Energiebilanz in Gestalt von Messdaten präzise zu belegen, war freilich nicht das einzige Ziel des mehrjährigen Monitoring-Projekts. Es galt auch, das Zusammenspiel der vielfältigen Technologien zu beobachten und Erfahrungen zu sammeln, und zwar gute wie schlechte, sagt Prof. Dr. Sick. Dieses Controlling sei bei neuen Technologien besonders wichtig, weil selbige noch nicht tausendfach installiert wurden, weiß der Ingenieurwissenschaftler, der im Studiengang Regenerative Energien an der HTW Berlin lehrt und seit vielen Jahren zu nachhaltigen Energiekonzepten für Gebäude und Quartiere forscht.

Prompt habe man in der Anfangsphase Fehler aufgespürt. Die Enttäuschung über den geringen Ertrag der Hybridkollektoren auf dem Dach beispielsweise verflog rasch, als sich herausstellte, dass die Module schlicht falsch verschaltet waren. Seit der Korrektur liefert die Anlage mehr Wärme als prognostiziert.

Nicht verbessern ließ sich die Leistung des Batteriespeichers. Er hat die in ihn gesetzten Erwartungen schlicht nicht erfüllt.

Deckenstrahlheizungen erhöhen den Komfort

Erkenntnisse und Aha-Effekte gab es noch viele. So entwickelte der Batteriespeicher neben dem Gebäude einen unerwartet hohen Eigenbedarf; die Dimensionierung des Erdspeichers erwies sich als zu klein, u. a. weil eine Fernwärmeleitung die zur Verfügung stehende Fläche einschränkte; die Verluste in der Warmwasserbereitstellung stiegen überraschend an, weil bei der Sanierung auch Grundrisse verändert worden waren, was zu einer Verdoppelung der Steigleitungen führte. Als Volltreffer entpuppte sich der Umstieg von konventionellen Heizkörpern auf sogenannte Deckenstrahlheizungen, einer Art Fußbodenheizung für die Zimmerdecke, bloß effizienter, weil keine Möbel herumstehen und die Wärmestrahlung blockieren, und perfekt passend zur Wärmepumpe, die im Niedertemperaturmodus besonders effektiv arbeitet. Im Sommer lassen sich die Deckenstrahlheizungen sogar zur Kühlung nutzen, was einen im Mietwohnungsbau ungewohnten Komfort liefert.

Das Verhalten der Mieter spielt auch eine Rolle

Für die eine oder andere Überraschung sorgten indes nicht nur die technologischen Komponenten, sondern auch die Mieter_innen. Statt sich mit einer Raumtemperatur von 21 Grad zu begnügen, wie bei der Planung angenommen, heizten sie im Mittel auf 23 Grad und ignorierten die Nachtabsenkung. So manches Fenster blieb gekippt, obwohl dank innovativer Belüftungstechnik streng genommen keines geöffnet und deshalb weniger geheizt werden müsste. „Dass Menschen sich anders verhalten als ingenieurwissenschaftlich sinnvoll, muss man akzeptieren“, hat Prof. Dr. Sick Verständnis. In seinen eigenen Wänden wolle man sich schließlich wohlfühlen. Im Gegenzug sei der Stromverbrauch geringer ausgefallen als vermutet. Die Mieter waren übrigens von der degewo über das Monitoring vorbildlich instruiert worden und einverstanden gewesen.

Das Zukunftshaus hat seinen Namen verdient

Das Fazit der HTW-Ingenieurwissenschaftler: Das Zukunftshaus der degewo hat seinen Namen wirklich verdient, auch wenn sich das Konzept nicht 1:1 übertragen lässt und in bestimmten Punkten modifiziert werden muss. Dass er das Wohnungsbauunternehmen bei diesem Erkenntnisgewinn unterstützen konnte, freut Prof. Dr. Sick besonders. Denn ihm liegen Energiewende und Klimaschutz persönlich am Herzen. 

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